„Nur die“ statt DDR

Wie „Konkret“ vor 40 Jahren nicht mehr vom Osten finanziert wurde und zu sich selbst fand

von DETLEF SIEGFRIED

Im Juli 1964 fiel Konkret aus. Die illegale KPD hatte deren Herausgeber Klaus Rainer Röhl im Mai aus der Partei geworfen, wegen „parteifeindlichen Verhaltens“. Von nun an blieben die monatlichen Subventionen aus der DDR in Höhe von 40.000 DM aus. Als vor vierzig Jahren, im August 1964, schließlich das erste Heft nach dieser Zäsur herauskam, hatte es zwar nicht sehr viel mehr als die üblichen vierzig Seiten, dafür aber doppelt so viele Anzeigen – und völlig ungewohnte dazu: jeweils eine Seite Werbung für Schöner Wohnen, für Freundin und für Nylonstrümpfe der Marke „Nur die“. Der eigentliche Durchbruch kam, als sich die Zeitschrift in den folgenden Monaten von einem avantgardistischen Blatt für Politik und Literatur zu einem Magazin wandelte, das alle Gebiete des Alltags behandelte – nicht zuletzt das Thema Sex – und damit das spannungsreiche Spektrum zwischen Politik und Konsum abdeckte, aus dem sich die gesellschaftliche Dynamik der 60er Jahre speiste.

Dass Konkret wie schon seine Vorläufer Das Plädoyer und Studenten-Kurier von der DDR finanziert wurde, hatten bereits viele Zeitgenossen vermutet, wegen der politischen Tendenz der Blätter, aber auch wegen des aufwändigen journalistischen Stils bei geringem Preis. Selbstredend wies die Redaktion jeglichen Verdacht von sich. Erst nach seiner Entmachtung 1973 offenbarte Röhl die tatsächlichen Verhältnisse.

Die Vorstellung einer Manipulation von „drüben“ geht am Kern der Verhältnisse vorbei, weil sie die innere Dynamik der Entwicklung im Westen ausblendet und die Akteure darauf reduziert, marionettenhaft agiert zu haben. Als Röhl die Öffentlichkeit über die Finanzspritzen informierte, legte er Wert auf die Feststellung, dass Eingriffe von außen bis 1962 nicht versucht worden seien: „Wir waren den Parteibefehlen immer um Tage voraus, wir flitzten ohne Auftrag durch die Gegend und machten alles mit schlafwandlerischer Sicherheit richtig.“ In politischer Hinsicht ging man durchaus eigene Wege, auf kulturellem Gebiet ohnehin. In vielen Ausgaben finden sich Artikel, die sich kritisch mit den Verhältnissen in der DDR auseinander setzten. Zunächst suchte Röhl diese Redaktionspolitik gegenüber der KPD-Führung taktisch zu rechtfertigen. Ab 1962 jedoch gab sich die Parteispitze damit nicht mehr zufrieden und entschied, Röhl als Herausgeber abzulösen. Als die Redaktion sich geschlossen dagegen stellte, drehte das Politbüro der KPD den Geldhahn zu.

Inzwischen war ein Blatt entstanden, das als Kristallisationskern einer neuen Opposition insbesondere junge Intellektuelle anzog. Um auch Nichtstudierende ansprechen zu können, war der Studenten-Kurier im Oktober 1957 umbenannt worden in Konkret, im Untertitel „Unabhängige Zeitschrift für Kultur und Politik“. Sie erschien ab Juli 1958 vierzehntäglich, seit 1962 monatlich, mit Lokalausgaben für Hamburg, Berlin, Frankfurt und München.

Populärkultur spielte in der Zeitschrift bis 1964 nur eine geringe Rolle. Musik, Mode oder Reisen, wie sie in der eher lifestyle-orientierten und damit schon früh erfolgreichen Konkurrenz Twen vertreten waren, wurden hier nicht behandelt. Das Blatt konzentrierte sich in erster Linie auf Politik, dann auf Kultur, vor allem auf Literatur. Im politischen Teil behandelte Konkret den Zustand der westdeutschen Demokratie, die NS-Vergangenheit ihrer führenden Akteure, Rüstungspolitik, die inneren Verhältnisse in der Bundeswehr und die Ostpolitik. In der internationalen Berichterstattung spielten der Algerienkrieg oder die Verhältnisse in den europäischen Diktaturen und revolutionäre Bewegungen in Ländern der „Dritten Welt“ eine wichtige Rolle. Reportagen aus der DDR leuchteten die Alltagsverhältnisse jenseits der Mauer aus. Auch DDR-Autoren wie Günter Kunert, Rainer Kirsch oder Volker Braun kamen zu Wort, als die SED schon deren „Nihilismus“ bekämpfte.

Den Grundton des Blattes als „schnoddrig“ zu bezeichnen, wie Röhl es tat, war im Grunde ein Euphemismus. Er war arrogant, ätzend, in vielerlei Hinsicht elitär – und gerade deshalb so anziehend für linke Intellektuelle, die sich in der behaupteten Egalität einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ nur an der Peripherie vorkommen sahen. Dem politischen Konservatismus trat man, wenn überhaupt, mit beißendem Spott entgegen, der Sozialdemokratie stand die Redaktion nicht viel weniger skeptisch gegenüber, vom Stalinismus distanzierte sie sich.

Interessant war hingegen alles, was den Hautgout des Unangepassten und Ausgegrenzten atmete – Proletariat und Subproletariat, unterdrückte Farbige und, in der Zeitschrift vorerst nur subkutan spürbar, Jazzmusik und Sexualität. Die in Konkret gepflegte Philosophie des rebellischen Außenseitertums stand in der Tradition der politisch radikalisierten Boheme der Revolutionszeit um 1918, aber sie hatte in den 50er Jahren eine spezifische Note erhalten, die Werner Riegel und Peter Rühmkorf als „Finismus“ bezeichneten: Man befand sich in einer Zwischenzeit und konnte nur aufs Ganze gehen, denn für die „KZ-Anwärter des 4. Reiches“ war das Ende absehbar. Aus dieser pessimistischen Gegenwartsdiagnose ergab sich eine spezielle Schreibhaltung, die Marginalisierung und politische Höchstambition miteinander verband.

Nonkonformistisches Nölen am Rande der Gesellschaft war allerdings nicht genug, und deshalb hatte es schon vor dem Bruch mit der KPD Vorbereitungen gegeben, das auf ein Studentenmagazin zugeschnittene Vertriebssystem zu überwinden und das Blatt an die Kioske zu bringen. Seit 1963 erschien Konkret im Glanzpapierumschlag, ein Jahr später im teuren Kupfertiefdruck. Das Ausbleiben der Subventionen im Sommer 1964 forderte einen radikalen Schnitt. Für Röhl eine Gelegenheit, seine Idee vom „Horizontalen“ zu verwirklichen, einer breiten Verständlichkeit: Auch die von ihm oft beschworene „Klofrau von Hannover“ sollte Konkret-Leserin werden können.

Rühmkorf hatte Röhl geraten, „nicht weiter links am Lustprinzip vorbeizusegeln“, sondern „ungeniert“ auf Sujets zuzugreifen, die Absatz brachten. Dies fiel dem Herausgeber nicht schwer, den viele als Bonvivant betrachteten, erregte aber den Widerstand der Chefredakteurin Ulrike Meinhof, der dies ein allzu großes Zugeständnis an den Massengeschmack war – ein Konflikt, der 1968/69 erneut aufkam und schließlich zu Meinhofs Bruch mit Konkret führte.

Nach der Zäsur von 1964 wurde der Rahmen deutlich weiter gespannt, wodurch neue und vor allem jüngere Leser gewonnen wurden. Mehr oder weniger nackte Frauen auf dem Titelbild und das Thema Sexualität spielten dabei eine wichtige Rolle. Sex kurbelte den Verkauf an, war aber auch ein zentraler Faktor im Liberalisierungsschub der 60erJahre. Hier hatte Konkret die Nase vorn. Unter der Leitidee der antiautoritären Revolte wurde dieses Thema von Beginn an in eine politische Perspektive eingebunden und als Projekt der jungen Generation gegen das autoritäre Spießertum der Alten profiliert. Bei den entsprechenden Texten handelte es sich keineswegs nur um literarische Kolportage, sondern in beträchtlichem Umfang um politischen Journalismus, etwa in einer Kampagne zur Anwendung der Anti-Baby-Pille durch unverheiratete und minderjährige Frauen.

Aber Sex war nur ein Teil einer sehr viel breiteren Öffnungsbewegung, die das Blatt vollzog. Es beschäftigte sich deutlich stärker als zuvor mit der Alltagskultur der Gegenwart, nicht zuletzt mit Jugendkultur: Berichte über „Gammler“ (1964), eine Artikelserie Rühmkorfs über Schlager (1966/67), eine Serie über Drogen (1967/68). Auch im Hinblick auf das Personal wirkte die Krise wie eine Frischzellenkur, denn bis auf Röhl, Meinhof und den Geschäftsführer Klaus Steffens hatten alle besoldeten Mitarbeiter gehen müssen, und so wurde Platz geschaffen für einen ganzen Schwung neuer Autoren mit neuen Themen. Aufgefrischt wurde das Blatt etwa durch Hubert Fichtes Kolumne „Plattenragout“ (1965/66) oder Uwe Herms’ „Schallplattentip“ (1966/67).

Der „schizographische“ Stil der frühen Jahre erhielt sich am ehesten noch in Meinhofs Texten, ansonsten aber mischte sich vor allem unter die Alltagsthemen ein nach wie vor kritischer, aber auch optimistischerer Ton: Sozialismus war nicht mehr nur eine spinnerte Ideologie randständiger „Pinscher“ (Ludwig Erhard), sondern ein reales, facettenreiches Projekt, das weltweit auf dem Vormarsch war. 1968 war Konkret nicht mehr nur eine handvertriebene Zeitschrift für finistisch gestimmte Einzelne an den Hochschulen, sondern eine moderne Illustrierte, die radikale Gesellschaftskritik mit einem ausgeprägten Sinn für die Transformationen des Alltagslebens verknüpfte.

Zur „Klofrau von Hannover“ drang Konkret nicht vor. Die Leserschaft blieb auf ein Segment begrenzt, das man als männlich, gebildet, sozial besser gestellt und großstädtisch skizzieren könnte. Die Leseranalyse von 1968 zeigte, dass höhere Abiturientenanteile nur Die Zeit und das Reisemagazin Merian aufweisen konnten, das Geschlechtergefälle hingegen bewegte sich mit 77 Prozent männlichen zu 23 Prozent weiblichen Lesern fast auf dem Niveau von Autozeitschriften.

Konkret wurde zum publizistischen Flaggschiff der antiautoritären Bewegung, weil es sich aus der Not heraus mit einer Mixtur aus Privatem und Politischem an die Spitze einer Lifestyle-Revolution setzte, die ohnehin im Schwange war. Dazu wäre es kaum gekommen, hätte nicht die Partei die Zahlungen eingestellt: ein Modernisierungsschub durch Subventionsentzug.

DETLEF SIEGFRIED, 45, arbeitet derzeit an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg an einer Studie über Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre