Überall, wo wir nicht sind

Seit es Kino gibt, handelt es von Arbeit: Der Industrielle Lumière drehte, wie Arbeiter nach Feierabend seine Fabrik verlassen. Chaplin machte fachgerecht kaputt, was ihn kaputtmachte, später träumten Sekretärinnen von der Ehe mit dem Chef. Doch die Arbeit selbst, sie blieb dabei im Vagen. Ein Überblick

VON GEORG SEESSLEN

Im Jahr 1961 fragte eine Diskussionsrunde des deutschen Gewerkschaftsbundes auf dem Podium bei den Ruhrfestspielen sehr einfach: „Warum wird eigentlich im Film nicht gearbeitet?“ Die Antworten waren auch ziemlich einfach: Die Menschen arbeiten schon vorher den ganzen Tag. Kino wird von einer Industrie gemacht, die kein Interesse daran hat, die Menschen auf das Elend ihrer Arbeit aufmerksam zu machen oder ihnen Flausen über die Veränderung in den Kopf zu setzen. Es war ein Bolschewik, Ilja Ehrenburg, der den Begriff der Traumfabrik entwickelte: maschinelle Verdrängung des Bewusstseins von der Maschinisierung. Arbeit ist in der protestantisch-kapitalistisch-sozialdemokratischen Höllenwelt ohnehin eine Strafe, der sich aber tunlichst niemand entziehen soll. Für die Arbeit als Glück gibt es keine Bilder, sieht man einmal von jenen Formen der Arbeit ab, in denen sich Menschen ihre Kinderträume zum ewigen Traumbild der Lokomotivführer und Tierärztinnen gemacht haben. Denn paradoxerweise ist der glückliche Zustand der menschlichen Erfüllung durch die Arbeit des Subjekts an den unglücklichen Zustand der enteigneten Arbeit gekoppelt. Und so wie im Kino die Bilder vor ihrem eigenen Grauen in Bewegung geraten sind, so sind in der Arbeitswelt Glück und Unglück der Arbeit in den biografischen Mythos der „Karriere“ geflüchtet. Und von Karrieren, weiß der Himmel, kann das Kino erzählen.

Dasein ohne Arbeit

Der Kritiker Wilfried Berghahn stellte damals lapidar fest: „Der Film ist die Erzählgattung, in deren Mittelpunkt das Dasein ohne Arbeit steht.“ Einer, der arbeiten lässt, der Sklavenhalter, der Fabrikherr, ist interessant. Aber auch der Arbeitslose ist interessant. Sogar Chaplin, der in seinen Filmen viel von Arbeit erzählte, erzählte immer auch davon, mit welcher List man sich eine Arbeit erbeuten muss und wie schnell man sie wieder verliert; wie man sich vor ihr drückt, und wie man sie zu etwas verwendet, das nicht im Sinne der, nun ja, Arbeitgeber ist. Filmkomiker sind die Dekonstruktivisten der Arbeit, von Buster Keaton über Karl Valentin bis Jacques Tati: Die Würde des Menschen ist nur zu retten, wenn man die Arbeit und ihre Bedingungen fachgerecht kaputtmacht.

Wer arbeitet, hat schon verloren. Helden sind unterwegs und offen. Aber das hat auch im Kino seine Geschichte. Das Kino wurde in den Fabriken und Laboratorien der bürgerlichen Unternehmen der so genannten Gründerzeit entwickelt. Zwei der ersten „sensationellen“ Erfolge des Films stammen von den Industriellen Lumière. Der eine zeigt einen Zug, der in einen Bahnhof einfährt, der zweite Arbeiter beim Verlassen der Fabrik. Dass der erste Film so sensationell wirkte, kann man sich noch vorstellen, wenn man die damaligen Plakate betrachtet: Schreiend laufen da die Leute aus dem Kino, weil sie zwischen dem Leinwandzug und einem echten nicht unterscheiden können und Angst haben, von der manischen Maschine überfahren zu werden. Ob das nun ein Reklamegag war oder nicht, man erkennt einen Strang des Kinos, der bis zum Weißen Hai, zum Exorzisten oder zur Titanic führt. Das Kino versetzt uns in eine Situation der Angst und befreit uns wieder, mal durch ein Happy-Ending, mal durch die Versicherung: Ist ja nur Kino.

Aber warum konnte der zweite Film so sensationell erfolgreich sein, der nichts anderes zeigte als Leute, die durch ein großes Tor der Fabrik entkommen? Nebenbei gesagt: Es war die Fabrik des Filmemachers selbst, und er filmte „seine“ Arbeiter aus seinem Büro hoch über dem Fabrikgelände. Und darin vielleicht liegt auch schon das Geheimnis dieses Erfolges beim proletarischen und kleinbürgerlichen Publikum: Man sah zwar auf der Leinwand wirklich nichts anderes als sich selbst, aber aus einem neuen Blickwinkel, in einer Perspektive der Allmacht, von einem Ort her, den man noch nie betreten hatte. Ein Arbeiter sah sich selbst auf der Leinwand mit den Augen des Fabrikherren. In den Jahren etwa 1915 und 1920 erlebte das Kino in Europa etwas, was man seine Verbürgerlichung nannte. Das Kino sollte eine Kunst werden und mit den alten Künsten, mit klassischen Stoffen von Tragödie, Melodrama oder Komödie, kollaborieren. Das hieß auch: Es sollte seine beiden Quellen, den Jahrmarkt und die Fabrik, tunlichst überwinden. Fritz Langs „Metropolis“ war noch einmal eine große filmische Auseinandersetzung mit der Fabrik als Lebensraum, mit der Gewalt der Maschinen und mit der Klassengesellschaft. Aber der Film war auch Pulp Fiction. Was ideologisch davon zu halten ist, lässt sich in mindestens zwanzig Doktorarbeiten nachlesen. Doch was das Ästhetische anbelangt, können wir uns noch heute diesem Sog der Bilder nicht entziehen, die eine perfekte Mischung des Phantastischen und des Realistischen bieten, etwas, was weit weg in der Zukunft liegt und ganz nahe bei uns. So entwickelte sich eine ganz eigene Linie im Kino: die Verkleidung unserer Diskurse um Arbeit und Politik in einem futuristischen Genre. Wenn man nur genau hinsieht, dann sind auch solche Effekt- und Actionknaller wie „Terminator“ oder „Matrix“ verkleidete Diskurse über die Zukunft der Arbeit.

Die Moral der Arbeit

Die Reporterinnen, Sekretärinnen und Ladenmädchen, die in den 30er-Jahren davon träumen, von ihrem Chef geheiratet zu werden (oder die Büro-Idioten, die im Kino träumten, ein Chef zu sein, den zu heiraten die Sekretärinnen träumten), sie wollten in ihren Filmen nicht nur den Teufelskreis der Arbeit verlassen, sie sahen sich zumindest auch mit einer Karikatur ihrer wirklichen Arbeits- und Lebensbedingungen konfrontiert. Nachdem es seine Kunst-Träume hinter sich gelassen hat, ab den 30er-Jahren, zeigte das Kino die Arbeit auf eine ganz eigene Weise: Es spaltet sie in den körperlichen und in den maschinellen Teil (sexy ist der Kerl, der im Schweiße seines Angesichts Holzklötze spaltet, armselig dagegen der Kerl, der mit der selben Anstrengung die Schrauben an einem Motorblock festzieht). Arbeit ist okay, wenn sie ihren Teil in der Modernisierungsfabel spielt, wie der junge Automechaniker in der angeblich heilen Welt des deutschen Heimatfilms. Dass das Kino die Arbeit melodramatisiert, das heißt nicht nur, dass es nach Tugend und Terror sucht und weder Lust noch Nutzen, sondern vor allem die Moral der Arbeit ausstellt. Es heißt auch, dass es nach dem Geschlecht der Arbeit fragt. Mann und Frau definieren Arbeit und definieren sich durch Arbeit (und verschwimmen durch die Arbeit). Wenn das Kino eine Maschine zur Produktion des Paares (und der Familie) ist, so muss die Arbeit so furchtbar ambivalent sein: das, was das schmucke Einfamilienhaus, die wohl erzogenen Kinder, Wagen und Rasenmäher erst ermöglicht. Und sogleich ist es auch das, was all das wieder in Frage stellt. Daher taumeln die Kinohelden zwischen Karrierist und Peter Pan.

Alles, was ab den 50er-Jahren, nach dem am unbarmherzigsten maschinisierten Krieg, mit der Arbeit schief läuft, hat diese beiden Formen: die Entfremdung durch die Karriere (die Leute wie Doris Day, Rock Hudson, Jerry Lewis oder Jack Lemmon zum komischen Zappeln in den Leistungs- und Verkaufscodes bringt und zur seltsamen, unkontrollierbaren Wiederkehr des Körperlichen führt) oder der Kampf gegen die immer perfekteren Maschinen. Das Bürgertum muss seine Sex- und Genussfähigkeit gegen die Neurotisierung der Karriere verteidigen; das Proletariat muss seine Arbeitskraft und das handwerkliche Können gegen die Maschine verteidigen.

In den neuerlichen Spaltungen der Arbeit aber geht auch die Wahrnehmung des Körpers und der Welt verloren. Daher treten stets neben die Arbeits- und Kampfmaschinen auch die Illusionsmaschinen. Gegen die Neurose der Karriere und gegen das Verschwinden der Arbeit muss immer auch die Realität selber verteidigt werden, gegen die endgültige Spaltung des Menschen in das unbrauchbare Tier und die größenwahnsinnige Idee. Darum geht's, von „Metropolis“ bis „I, Robot“. Nicht nur darum, wie sich in Zukunft die Beziehung zwischen dem Menschen und der Maschine gestalten wird oder zwischen dem Menschen und seinen digitalen Hilfsinstrumenten, sondern auch darum, ob und wie der Mensch der Zukunft sich noch über die Arbeit definieren und empfinden kann oder ob sein Leben ein Dahindämmern im Medien- und Drogenrausch sein wird. Ich vermute, man kann der gewerkschaftlichen Diskussionsrunde von 1961 etwas entgegenhalten: Im Kino geht es fast immer um Arbeit. Es ist ein Echo der Tragödie, der Groteske, der Banalität der Arbeit.

Das leere Zentrum

Jetzt aber, da nicht die Arbeit, sondern die Bereitschaft der Profiteure, für sie zu zahlen, knapp wird, beginnen wir uns nach Bildern der Arbeit zu sehnen. Arbeit spielt im Kino der Migration wieder eine Rolle, hier dürfen wir an das Politische in der Verteilung von Arbeit erinnert werden; an die Stelle der Leute, die sich endlos mit ihren Gefühlen beschäftigen, treten die Konflikte der „Ressources humaines“. Gibt es etwas Schrecklicheres als Arbeit? Keine Arbeit!

Ein Bild herzustellen unterscheidet sich nicht sehr von dem Prozess, ein Bewusstsein herzustellen. Daher kann das Kino letztendlich nur sehr bedingt Bilder von der Arbeit herstellen, solange die Gesellschaft kein Bewusstsein davon zulässt. Tatsächlich muss ich, bevor ich meine Kamera auf einen arbeitenden Menschen richte, einige fundamentale Fragen beantworten: Was ist die Arbeit? Warum arbeiten wir? Wenn ich jemanden zeige, der arbeitet, weil er am Abend in die Disco gehen will, dann genügt eine Einstellung von seiner Verrichtung auf seinen Gesichtsausdruck, um zu zeigen, dass dieser Teil seines Lebens nicht sein eigentlicher ist. Es gibt genügend solche Einstellungen in unseren Filmen vom Kistenschleppen, vom Pizzabacken oder vom Fischschuppen; sie zeigen uns sehr deutlich, wie wenig hier ein eigentliches Leben stattfindet. Und umgekehrt sehen wir genügend Leute Computer und Telefone bedienen, in Armani-Anzügen Intrigen spinnen: neoliberales Ideal oder schon wieder dessen Dämonisierung. Es gibt Leute, die Geld machen, und es gibt Leute, die arbeiten. Die beiden passen auf Anhieb nicht zusammen. Entweder verlieben sie sich ineinander, oder sie bringen sich gegenseitig um.

Wenn Arbeit sozusagen zum leeren Zentrum, zum großen Verschwinden in unseren Bildern geworden ist, dann gibt es in diesem Kreisen nicht den Schuldigen nach dem Motto: die einen wollen es nicht zeigen, die anderen wollen es nicht sehen, und denen, die es betrifft, ist beides egal. Was Arbeit ist, wer sie verteilt, wer sie definiert, das ist unsere Zukunft. Und ein wesentlicher Teil davon ist es, welche Bilder von Arbeit wir dabei produzieren. Und wie wir darüber reden. Schöne Arbeit gibt es überall, wo wir nicht sind. In der Vergangenheit, als Arbeit noch Geschichte machte (wenn wir eine Eisenbahnlinie über den amerikanischen Kontinent bauen); in der Provinz (wenn der brave Senner im Einklang mit der Natur seinen Käse macht) oder in der Ferne (wo der sinnenfrohe Schwarze bei der Arbeit singt). Für eine dekolonialisierte, nicht entfremdete, nicht elende Arbeit gibt es keine Filmbilder. Einer der vielen möglichen Erklärungen dafür: weil es das ganz einfach nicht gibt. Schöne Arbeit wird Arbeit nur genannt, um das protestantisch-kapitalistische Arbeitsethos, zum Beispiel, zu beruhigen. In Wirklichkeit wäre schöne Arbeit nichts anderes als eine Form der mehr oder weniger sublimierten Lust. Wenn das Kino also von schöner Arbeit reden soll, (von böser Arbeit redet es unentwegt), dann kann es genauso gut gleich von Lust reden. Und das macht es denn ja auch.

Drehen wir die Sache auf den Kopf. Das ideale cinematografische Subjekt ist der Mensch, der die böse Arbeit abschafft, der ein Volk (wie Moses) oder eine Familie (wie Clint Eastwood) aus der Sklaverei durch Arbeit herausführt, und der ideale leichte Kinoheld ist der trickreiche Arbeitsverweigerer. Sehen wir uns Western an. Es sind Abbildungen einer Meta-Arbeit: Eine Nation wird erkämpft, ergaunert, erfunden und erarbeitet. Und was macht der Westerner? Er reitet lieber erst mal weiter, und er weiß schon, warum er nicht bei der teuflisch schönen Frau bleiben darf. Weil das nichts als Arbeit bedeuten würde. Die Arbeit einer Sekretärin im bundesdeutschen Unterhaltungsfilm wird nur deswegen so ausführlich gezeigt, weil am Ende die Erlösung steht: Die Sekretärin wird als Showstar entdeckt, oder sie heiratet den Chef. Wir sehen Krankenschwestern beim Quasseln, aber nicht Arbeiterinnen in einer Fischfabrik zu. Und umgekehrt muss der Karrierist seit diesen Tagen immer wieder von seiner Arbeitssucht geheilt werden (was aber, genauer besehen, ein falsches Wort ist), und notfalls muss man den Handy-Computer-Bürostuhl-Mann mit Gewalt daran erinnern, dass er doch einmal Peter Pan in Neverland war.

Neverland ist das Land vor der Sexualität (aber voll von sexuellen Suggestionen) und ohne Arbeit (aber voll von Drohungen der Entfremdung). Wenn aber Sexualität und Arbeit eine solche Funktion haben, dann hat die Kinoerzählung ein Problem: Sexualität (sowohl als konkretes Begehren als auch als homerische Welt-Lust) darf sich in diesem Bildraum nicht in jene Arbeit verwandeln, die nur Gefängnis sein kann: die Kettung an die Maschine, an den Profit, an die Familie. So verstehen wir vielleicht, dass es auch hier im Kino die Arbeit zweimal gibt: als das leere Zentrum, um das herum erzählt und abgebildet wird, und als Verheißung und Drohung von den Rändern her. Von dort, zum Beispiel, kommen jene manischen Maschinen in die Welt zurück, die nicht unsere Arbeitssklaven sein wollten, weil sich in ihnen die ganze Tragödie und der ganze Witz unserer Arbeit konzentrieren mussten. Und weil sich nur Maschinen trauen, dagegen zu rebellieren. Uns dagegen, uns muss man die Arbeit nur nehmen, schon beten wir sie wieder an. Im Kino jedenfalls sind Roboter nicht nur die besseren Menschen, sondern auch die aufrechteren Klassenkämpfer.