: Das schöne Mysterium
Ganz Europa macht Ferien. Und die Deutschen? Sie stopfen ihr Sommerloch, indem sie an ihrer Rechtschreibung herumkritteln. Eine französische Liebeserklärung an die deutsche Sprache
VON PASCALE HUGUES
Für uns Ausländer, die wir jahrelang büffelten, um mehr oder weniger geschickt die Sprache Goethes zu beherrschen, ist die Rechtschreibreform eine Frechheit. Eine Zumutung. Eine Katastrophe. Diese Kehrtwende ist eine Undankbarkeit, die uns hinterrücks überrumpelt. Alles fängt noch mal bei Null an. So viel Schweiß, Tränen und Gespeichel für nichts!
Mein erster Kontakt mit der deutschen Orthografie war nämlich feucht und eher unangenehm. Mein Deutschlehrer auf dem Gymnasium hatte sehr vorgeschobene Zähne und bespuckte beim ersten Diktat mit jedem beschwörenden Wort die Schüler in den vorderen drei Reihen. Bis zum heutigen Tag ist für mich die deutsche Orthografie ein unauflösbares Mysterium inmitten des Wort-Universums, eine Willkürherrschaft geblieben.
Warum schreibt sich „Rad fahren“ mit zwei Wörtern und „Autofahren“ in einem einzigen? Oder war es andersrum? In Frankreich ist das für seine Schwierigkeit bekannte Deutsch – wie Latein in Deutschland – ein Auswahlkriterium um in die guten, „akademischeren“, elitäreren Schulklassen reinzukommen. Eine Sprache auch, die schon seit Jahren rapide an Fahrt verliert, weil die Schüler dem einfacheren Englisch oder Spanisch den Vorzug geben. Warum ist eine ganze Nation, die sich schon seit Jahren in einer ergebnislosen Debatte verausgabt, so versessen darauf, das zu verkomplizieren, was sie doch so sehr zu vereinfachen versuchte?
Am verlängerten Ferragosto-Wochenende machen es sich die Italiener an ihren Riviera-Stränden bequem. Am Wochenende um den 15 Juli schlängeln sich die „Juillétistes“ (die Franzosen, die im Juli urlauben) und die „Aoûtiens“ (diejenigen, die im August Ferien machen) durch die Staus auf den Autobahnen Richtung Sonne gen Süden. Ganz Europa macht Ferien. Und die Deutschen? Sie versuchen ihr Sommerloch dadurch zu stopfen, dass sie an den Kommastellen in ihren Sätzen herumkritteln.
Reform, Reform – ständig redet dieses Land von diesem Wort. Eine richtiggehende Raserei. Wenn man schon den Sozialstaat, das Gesundheitswesen und das Schulsystem reformiert – warum dann nicht gleich im Anschluss die Rechtschreibung? Ich stelle mir die Revolution vor, die in Frankreich ausbräche, falls eine damit betraute Gruppe Bürokraten in Anzug und Krawatte sich einbilden würde, unsere Sprache von ihren Unebenheiten befreien zu wollen. Etwa das passé simple zu unterdrücken oder das „oe“ durch ein nacktes und schmächtiges „e“ zu ersetzen oder den kleinen Wurmfortsatz unter dem „ç“ zu verbannen oder „impossible“ zu „inpossible“ umzurationalisieren.
Die Herren von der Académie française, altehrwürdige Gralshüter der Sprache, gekleidet in Brokatfracks und mit dem Auftrag, das „Dictionnaire de la langue francaise“ auf dem neuesten Stand zu halten, würden nicht zögern, den Degen zu ziehen. Und die französische Regierung, schon einmal zum Kreuzzug gegen die die Sprache Molières verschmutzenden Anglizismen ausgezogen, würde umgehend zu ihrer Verteidigung mobil machen.
In ihrem Wahn, alles sauber und glatt machen zu wollen, scheinen die Väter der deutschen Rechtschreibreform vergessen zu haben, dass das, was die Schönheit einer Sprache ausmacht, zuallererst ihre Freiheit ist. Eine Sprache atmet, ändert und vereinfacht sich, reinigt sich von selbst von ihren „Schlacken“. Diese Veränderungen passieren auf der Straße, in den täglichen Gesprächen, auf organische und spontane Weise und nicht in langen Sitzungen hinter verschlossenen Türen, geführt von gelehrten Linguisten und pingeligen Experten aus den Kultusministerien. Die Sprache lässt sich nicht von oben reformieren; sie verwandelt sich, fast unbemerkt, von unten. Was den anstrengenden Charme einer schwierigen Sprache wie Deutsch ausmacht, sind genau all jene Komplikationen, die die Herren von der Mannheimer Kommission als störend ansehen.
Ich liebe diese Regeln, die keine Logik erklären kann, diese unverständlichen Ausnahmen, diese verschrobene Architektur, diese perfiden Klippen: Die verschlungenen Rundungen des „ß“ – ein „b“ mit umgedrehtem Fuß, eine Geschöpf mit siamesischem Zwillingskopf, welches die französische Tastatur meines Rechners nur mit „ss“ übersetzen kann, was wiederum das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte in Erinnerung ruft. Die Anarchie der Groß- und Kleinbuchstaben. Die Wortreihen, die sich wie die Waggons eines Zuges an- und abhängen. Die etwas altmodische Eleganz eines „ph“.
Das Deutsche ist eine sich ständig (ver)strömende Sprache. Eine harte Nuss, die man irgendwann zu knacken aufgibt. Ganz das Gegenteil von jener funktionalen Sprache, von der die Reformer träumen, denen Autobahnsätze am liebsten wären, die von einem zum anderen Punkt flitzen – ohne Umwege oder abrupte Kurven. Ganz das Gegenteil einer praktischen und hygienischen SMS-Verschick- oder E- Mail-Schnell-Sprache.
Anders als das Englische, wo man es schnell schafft, fehlerfrei zu schreiben, wird das Deutsche für diejenigen, die es nicht als Muttersprache haben, immer ein schwer zu enträtselndes Quiz sein.
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