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Archiv-Artikel

theorie und technik Über die Angstlust in der Finanzkrise: Alles bricht zusammen, und ich bin mittendrin!

Seien wir ehrlich: Sind wir nicht auch ein bisschen gefesselt von dem Drama, das sich derzeit vor unser aller Augen entfaltet?

Also, ich muss Ihnen ein Geständnis machen: Bei aller von der politischen Korrektheit gebotenen Sorge um die Existenz der betroffenen Menschen, bei aller Sorge um BIP & Co – ich schlage dieser Tage auch mit einem gehörigen Schuss voyeuristischer Faszination die Zeitungen auf. Saab pleite. General Motors klinisch tot. AIG braucht weitere 60 Milliarden Dollar. Island bankrott. Irland folgt gleich nach. Citigroup praktisch insolvent. Japans Wirtschaft mit einem Minus von 12 Prozent. Wow. Alles bricht zusammen. Und ich bin mittendrin! Klar, ich habe Angst. Sie wahrscheinlich auch. Aber seien Sie ehrlich: Sind Sie nicht auch ein bisschen gefesselt von dem Drama, das sich da vor unser aller Augen entfaltet? Endlich mal was los!

Leider muss ich Ihnen auch die Mitteilung machen, dass der Verein der Freunde freier Märkte diese Haltung sehr verwerflich findet. Wolfram Weimer vom Magazin Cicero hält die „fiebrige Lust an der ökonomischen Apokalypse“ für unangemessen, einerseits, weil sie Resultat der Vorurteile jener Menschen sei, die insgeheim immer schon etwas gegen den Kapitalismus hatten, und außerdem weil die Apokalypse, wie alle angekündigten Weltuntergänge, ohnehin nicht kommt. Ganz ähnlich streng hat das Theo Dorn in einem gar nicht unklugen Spiegel-Essay über die „Lust an der Apokalypse“ geschrieben.

Nun ist die Sehnsucht nach der Katastrophe, diese seltsame Angstlust, tatsächlich beinahe so alt wie die Menschheit selbst. Sintflut und Apokalypse gibt es schon in der Bibel, Blitz und Verderben fährt hier auf die Menschen nieder, und in der düsteren Offenbarung des Johannes gibt’s als jüngstes Gericht die wüste Schlacht von Armageddon, da wird mit Feuer und Schwefel nicht gespart. Von der Erwartung des Halley’schen Kometen bis zur Panik ganzer Generationen vor Nuklearkrieg, Vogelgrippe oder der xenophoben Paranoia vor der Muslimschwemme hat sich daran nichts geändert. Da von Angstlust zu reden, trifft schon einen Punkt, was freilich nichts daran ändert, dass manche Katastrophen eben doch eintreten, so wie es traurigerweise ja auch gelegentlich vorkommt, dass Hypochonder sterben.

Die Ausmalung der schönsten „Untergangsmöglichkeiten“ hat, wie Friedrich Sieburg vor mehr als 50 Jahren in einem Essay über die „Lust am Untergang“ schrieb, gerade in als zu ruhig empfundenen Epochen eine gewaltige Anziehungskraft. „Der Alltag der Demokratie mit seinen tristen Problemen ist langweilig, aber die bevorstehenden Katastrophen sind hochinteressant.“ Das Schlimmste ist, wenn nichts geschieht, heißt es in Brechts Mahagonny-Oper – in der Stadt Mahagonny wird nie ein Mensch glücklich, „weil zu viel Ruhe herrscht“.

Katastrophen sind „Ereignisse, die den Lauf der Dinge jäh unterbrechen, Eruptionen, die das Kontinuum sprengen, die Geschichte in eine andere Richtung zu reißen vermögen“, schreibt Thea Dorn, wohingegen normale Krisen das Leben nur auf unspektakuläre Weise anstrengend machen.

Irgendwas ist daran wahr und falsch zugleich. Die prophezeite Katastrophe, die nie eintritt, wie etwa der Einschlag eines Kometen, hat einen anderen Status wie die Katastrophe, die deshalb nicht eintritt, weil sie vorausgesagt und deshalb abgewendet wird (wie das Waldsterben, möglicherweise der Klimawandel). Dann gibt es die Katastrophen, die stattfinden, doch die meisten von uns glücklicherweise nicht betreffen, die wir aber gerade deshalb mit einer „fiebrigen Faszination“ verfolgen: Wenn die WTC-Türme einstürzen und wir live dabei sind, wenn der Tsunami halb Asien überschwemmt. 3.000 Tote, 100.000 Tote – es gibt hier ein Erstarren vor der Monstrosität, der großen Zahl.

Mit der globalen Finanzkrise sind wir Beobachter eine Katastrophe und Betroffene zugleich, freilich in einem anderen Sinn, als wenn wir von einer Lawine verschüttet werden. Wir wissen, es gibt diese Katastrophe, sie betrifft uns „irgendwie“, aber wir wissen nicht genau, wie – etwas Materielles, etwa den „Blauen Brief“ oder den desaströsen Auszug des Wertpapierdepots, haben die Wenigsten von uns in der Hand. Darüber hinaus entfaltet sich die Finanzkrise als „Ereignis“, das sich aus Detailereignissen zusammensetzt, die sich aufeinandertürmen. Jedes dieser Ereignisse, so lapidar es auch sein mag (wie etwa der Wertverfall der strukturierten US-Hypothekenbündel, die nicht einmal ein Prozent der am Weltfinanzmarkt gehandelten Papiere ausmachte), kann buchstäblich die Welt zum Einsturz bringen. Wir wissen nicht genau, was in den Glasfaserkabeln, die die globalen Finanzmärkte verbindet, exakt vor sich geht, aber wir wissen, es ist das ökonomische Äquivalent zur Neutronenbombe: Die Wolkenkratzer stehen noch, aber womöglich sind die Büros bald menschenleer. Ich finde, man darf sich davon schon ein wenig faszinieren lassen. ROBERT MISIK