: Ein Wüstensohn auf Wurzelsuche
Seine Großeltern wuchsen in Palästina auf, seine Eltern in Jordanien und Kuwait. Nabil Abdel-Jalil ist jetzt Notarzt in Grevenbroich
AUS GREVENBROICH LUTZ DEBUS
Sein knapp dreijähriger Sohn Anas schießt auf ein kleines Fußballtor. Nabil Abdel-Jalil sitzt auf der Veranda. Ein schönes kleines Eigenheim bewohnt er, Vorstadtidylle im Grevenbroicher Spätsommer. Sofort beginnt er, seine Geschichte zu erzählen. Palästina! Das war schon das Land seiner Urgroßeltern. Sein Vater kommt aus einem Dorf bei Haifa, seine Mutter aus dem Norden des Landes, das seit 1948 Israel heißt. Sein Vater erlebte die Vertreibung als 12-Jähriger, seine Mutter war gerade zwei Jahre alt. Kennengelernt haben sich seine Eltern in Wahdad, einem Flüchtlingslager in Jordanien. Doch Jordanien war Mitte der 1960er Jahre ein unsicheres Land. Die Mutter erzählt noch heute voller Grauen, wie sie tagelang ohne Nahrung eingepfercht in einem Schutzraum hauste, um sie herum Abfall, Exkremente, Leichen. Von draußen hörte sie Maschinengewehrsalven. Mit 16 heiratete sie, zog mit ihrem Mann nach Kuwait, damals noch eine britische Kolonie. Dort kam 1967 als zweiter Sohn Nabil Abdel-Jalil zur Welt. Er hat sechs Geschwister. Für palästinensische Verhältnisse eine kleine Familie.
Nabil Abdel-Jalil gießt Salbeitee ein, stellt Gebäck mit Feigenmusfüllung auf den Tisch. „Olivenbäume und Feigenbäume sind in Palästina gesegnete Bäume. Es ist verboten, sie zu beschädigen. Sie geben viel Ertrag, ohne dass man viel dafür arbeiten muß. Und die Früchte sind gesund.“ Stolz berichtet Nabil Abdel-Jalil, dass er vor zwei Jahren in seinem Garten einen Ölbaum pflanzte und dieser gut gedeihe, trotz der kalten Winter.
Pässe spielen in seinem Leben eine wichtige Rolle. Der Vater bekam einen jordanischen Pass. Nabil Abdel-Jalil kann nicht verstehen, dass sein Vater diesen angenommen hatte. Palästinenser sind staatenlos. Den kuwaitischen lehnte der Vater aber ab, obwohl er ihn damals hätte haben können. „Ich will doch wieder zurück an mein Mittelmeer“, habe er immer gesagt. Am Wasser wohnte er nicht mehr, sondern reiste als erfolgreicher Geschäftsmann herum. Für ein US-amerikanisches Unternehmen baute der Vater mit Freunden den ersten Supermarkt in Kuwait auf. Mit Frau und Kindern flog er regelmäßig nach Ägypten. Nabil Abdel-Jalil kann sich an den Nil erinnern, an grüne Weiden mit Kühen. Für ein Kind, das in der kuwaitischen Wüste aufwuchs, Lufttemperaturen zwischen 50 und 60 Grad im Sommer gewohnt war, ein eindrucksvoller Anblick. Der Vater dachte, wenn er genug Geld verdient habe und sich die politischen Verhältnisse ändern, könne er seinen Kindern die alte, verlorene Heimat zeigen, sie dorthin zurück bringen. Beruflich hatte er durchaus Erfolg. Aber im Jahr, als Nabil Abdel-Jalil geboren wurde, unterlagen Ägypten, Syrien und Jordanien Israel im Sechs-Tage-Krieg. Die Hoffnung auf eine Rückkehr musste der Vater 1970 endgültig aufgeben. Während des berüchtigten Schwarzen Septembers tobte der Bürgerkrieg zwischen jordanischem Militär und palästinensischen Milizen. Dann starb der ägyptische Präsident Nasser, ein Symbol des arabischen Nationalismus. Dies war das einzige Mal, dass die Mutter ihren Mann weinen sah.
Der kleine Anas möchte gern mit seinem Vater spielen, zerrt an dessen Arm. “Ich verbringe jede freie Minute mit meinem Sohn. Er ist für mich das Wichtigste. Und natürlich meine Frau. Wir erwarten noch ein Kind, ein Sohn. Ich hätte auch gern eine Tochter gehabt.“
Die Familie blieb also in Kuwait. Doch als Nabil Abdel-Jalil zehn Jahre alt war, erlitt sein Vater einen Herzinfarkt. Drei Wochen verbrachte er auf der Intensivstation. Erst durch die Krankheit hatte der Vater Zeit für seinen Sohn. Wieder Zuhause, saß der Vater mit dem Sohn oft auf der Terrasse. Der Vater redete viel über Religion, bereute, sich dem Glauben zu wenig zugewandt zu haben. Wenig später starb er. Die Mutter musste die sieben Kinder in dem fremden Land durchbringen. Es gab Ersparnisse, Tanten kümmerten sich um ihn. Sie waren Christen und feierten mit Nabil Abdel-Jalil Weihnachten und Ostern und auch die islamischen Feste. Mit den Tanten stritt er sich, als er in der Pubertät war. Dies war, wie er sagt, seine religiöse Phase.
Mit 19 kam er nach Deutschland. Er hatte das Angebot, in der Sowjetunion sein Lieblingsfach Chemie zu studieren. Doch Deutschland war für ihn reizvoller. So begann er sein Medizinstudium zunächst in Erlangen. Seine Mutter habe ihm prophezeit, dass er weinen würde. Er habe dies vor der Abreise energisch von sich gewiesen. Nach einer Woche in der Ferne aber hatte er unerträgliches Heimweh. Doch er hielt durch. Gerade, als er sein Physikum machte, die schwerste Prüfung des Studiums, brach der erste Golfkrieg aus. Er zitterte um seine Familie, die in Kuwait die irakische Besatzung und die US-amerikanische Intervention überlebte. Nach Stationen in Essen, Krefeld und Bedburg ist der Facharzt für Chirurgie in Grevenbroich gelandet, einem kleinen Städtchen zwischen Düsseldorf und Köln. Im Jahr 1992 lernte er seine Frau Birgit kennen, heiratete sie zwei Jahre später.
Wie ist Deutschland für ihn? „Als Notarzt erlebe ich die Wirklichkeit!“ Und wie ist diese Wirklichkeit? „Ganz unterschiedlich. Da ist unvorstellbarer Reichtum und echtes Elend. Es gibt Häuser im Einsatzgebiet, da trauen sich die Ärzte ohne Polizei gar nicht rein. In einem von diesen Hochhäusern habe ich binnen drei Jahren 40 Einsätze gehabt. Nur ich. Meine Kollegen waren da genauso oft. Einmal musste ich eine 16-Jährige versorgen. Sie blutete überall. Ihr Freund hatte sie geschlagen. Der wurde gerade von der Polizei festgenommen. Ihre beiden Kinder waren auch in dem Zimmer.“ Dann wieder gibt es auch andere Erlebnisse, zum Beispiel mit einem kleinen Mädchen. Es hatte sich den Finger gebrochen. Schlimmer als ihre Schmerzen war aber ihre Angst vor dem Doktor. Nabil Abdel-Jalil zog seinen Kittel aus, spielte mit dem Kind. Die Behandlung wurde so zur fast unmerklichen Nebensache.
Ist Nabil Abdel-Jalil gerne hier? „Ich verdanke diesem Land meine Ausbildung. Bei der Fußball-EM habe ich für Deutschland gejubelt. Aber ich muß nicht eine Bockwurst und eine Bierflasche in der Hand halten und ständig rufen: Ich bin ein Deutscher!“ Beim letzten Satz haut Nabil Abdel- Jalil mit der Faust auf den Tisch, dass die Teetassen tanzen. „Ich habe die falsche Hautfarbe.“ Ein Baum ohne Wurzeln sei doch ein kranker Baum. Gern würde er auch zurück. Aber wohin zurück? In Israel war er noch nie. Wären die Rahmenbedingungen andere, würde er sich das Land seiner Ahnen gern anschauen. Aber dort leben? Und Jordanien, das Land, in dem seine Eltern aufwuchsen? Das Flüchtlingslager, in dem sie lebten, besuchte er vor drei Jahren. Wenig hat sich in den letzten 40 Jahren dort verändert. Selbst die Einschusslöcher an den Wänden, stumme Zeugen des Schwarzen Septembers, konnte er noch betrachten.
Aber ist dies sein Zuhause? Nach Kuwait fährt er mit seiner jungen Familie regelmäßig, besucht seine Mutter und die verbliebenen Geschwister. Der kleine Wüstenstaat verändert alle paar Jahre sein Gesicht. Klimatisierte Wolkenkratzer werden in den Sand gerammt. Heimatgefühle vermittelt das nicht. Seine Frau Birgit möchte in dem kleinen Ort am Rhein wohnen bleiben. Und auch sein Sohn Anas zeigt begeistert auf die alte Dorfkirche, ruft „Bimbam!“ Für ihn ist die Zukunft hier sicherer als in der arabischen Welt. Aber Nabil Abdel-Jalil‘s Mutter ist schon etwas traurig, wenn sie sich am Telefon mit ihrem Enkel nicht auf Arabisch unterhalten kann. Dass Nabil Abdel-Jalil von den deutschen Kollegen „Der Schwatte“ oder „Wüstensohn“ gerufen wird, findet er eher lustig. Als ein Arzt ihn aber „Schläfer“ nannte, wurde er schon stutzig. Gern würde er später mal einen Flugschein machen. Selbst zu fliegen ist sein Traum. Aber im Moment stellt er diesen Wunsch lieber zurück.