Der lange Abschied

Jakob Hein schreibt in seinem neuen Buch „Vielleicht ist es sogar schön“über die Krankheit und den Tod seiner Mutter

Zunächst einmal Misstrauen: Warum muss ein Autor über den Tod der Mutter schreiben? Muss da etwas weggeschrieben, bewältigt werden? Ist der durchschnittliche junge, weiße Mitteleuropäer aus saturierten Verhältnissen derart erlebnisarm? Fällt ihm gar nichts mehr ein, als sich auf das Existenziellste zu stürzen, das ihm, wenn alles glatt läuft, passieren kann: den Tod der Eltern?

Aber dann gibt es Stellen in „Vielleicht ist es sogar schön“, dem dritten autobiografischen Buch von Jakob Hein, der sich um den Tod seiner Mutter dreht, die räumen alle Vorurteile aus. In einem Kapitel etwa besucht er die Mutter im Krankenhaus. Der Krebs ist zum ersten Mal ausgebrochen, noch ist er in der Lage, dumme Witze zu reißen: „Du lachst den ganzen Tag … du bekommst viel Besuch. Sag mal, diesen Krebs, den du hast, wo bekommt man den am besten her?“ Ein andermal wird ein Spaziergang von Mutter und Sohn beschrieben und ein gemeinsamer Lachanfall, als sie vom komischen Klientel bei ihrer Chi-Gong-Stunde berichtet, einem Kurs, mit dem sie die Schulmedizin ergänzen will. Wie Jakob Hein an Stellen wie diesen das Sterben seiner Mutter beschreibt – das ist berührend und nie weihevoll.

Doch besteht Jakob Heins Roman nicht nur aus Kapiteln, die stringent den Krankheitsverlauf der Mutter beschreiben, sondern auch aus eingeschobenen Erinnerungen an die Idyllen der Kindheit. Da sind hübsche Geschichten von Nachmittagen, als alle Familienmitglieder am Schreibtisch saßen – der Junge aber noch nicht schreiben konnte und deshalb nur geschwungene Linien malte. Anekdoten wie diese liest man ja schon deshalb gern, weil man wissen will, wie es zuging im Hause Hein in Ostberlin vor 1989, wie Jakobs Vater Christoph so war, der bekannte Schriftsteller, der den Tod seiner Frau übrigens kürzlich auch literarisch verarbeitet hat: In einem Kinderbuch. Jakob Hein erzählt, wie er manchmal mit zur Defa durfte, wo seine Mutter als Dokumentarfilmerin angestellt war – oder auch vom Einkaufen in der DDR, wie man die Läden abklappern musste. Das hat übrigens nichts mit Ostalgie zu tun. Hier wird von einer Kindheit erzählt, die so überall hätte verlaufen können.

Während diese Rückblicke noch schön zu lesen sind, gibt es jedoch einen anderen Erzählstrang in Jakob Heins Buch, der den Leser eher abhängt. Es geht um die jüdische Herkunft der Mutter Jakob Heins, den jüdischen Großvater, der im Zweiten Weltkrieg ermordet wurde – und die vergeblichen Versuche der Mutter, Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Ostberlin aufzunehmen. Es mag ja ganz erhellend sein, wie diese Gemeinde, dieses „kleine Holzfloß“, beschrieben wird. Amüsant, wie seltsam die sporadischen Treffen im Gemeindezentrum erscheinen, wo man Mischbrot statt Matze aß, wo sich Werner und Heinz, der sich Hershel nannte, jedes Mal aufs Gleiche darüber stritten, was es heißt, in einem Land jüdisch zu sein, in dem es keine jüdische Kultur mehr gibt. Trotzdem erfährt man hier wenig Neues. Und viel wichtiger: Das alles führt zu weit von der Mutter weg. Manchmal scheint es, als habe Jakob Hein den Blick dafür verloren, wie wenig die Mutter mit ihrer jüdischen Herkunft anfangen konnte und wie wenig das alles aussagt über sie.

Irgendwann bricht zum zweiten Mal die Krankheit aus – die schlimme Phase, in der es nur noch Medikamente gegen die Schmerzen gibt. Da werden die einfachen Sätze Jakob Heins, die er sich wohl als regelmäßiger Gast auf Berlins Lesebühnen antrainiert hat, plötzlich richtig stark. Der Abschied schlägt nicht in Kitsch um, das Unfassbare wird nicht fassbar gemacht, die Trauer nicht zu Ende gebracht. SUSANNE MESSMER

Jakob Hein: „Vielleicht ist es sogar schön“. Piper Verlag, München 2004, 165 S., 16,90 Euro