: „Aber ich bin doch noch so jung“
Friedrich Steinhauer, genannt die Nachtigall von Ramersdorf, hat in siebzig Filmen mitgespielt und ist mit seinen schönen Liedern durch die Kneipen getingelt. Heute ist er erblindet und lebt völlig mittellos in einer Einzimmerwohnung in Wedding
VON DETLEF KUHLBRODT
Vor zwanzig Jahren hatten wir uns bei den Dreharbeiten zu Rosa von Praunheims Film „Horror Vacui“ kennen gelernt. Der Schauspieler und Varietékünstler Friedrich Steinhauer, genannt die Nachtigall von Ramersdorf, hatte die Hauptrolle gespielt und ich war Komparse gewesen. Dann hatten wir uns immer wieder mal getroffen. Nun hatte ich die Nachtigall schon drei Jahre nicht mehr gesehen.
Vor zwei Jahren hatte er noch meinem Anrufbeantworter erzählt, wie er in einem Lokal am Kollwitzplatz gesungen hatte. Alle seien begeistert gewesen, aber niemand hatte ihm etwas geben wollen. Dann habe er jemandem „auf die Schulter geklopft“, man habe ihn rausgeworfen; er sei gegen einen Mercedes geflogen und habe sich dabei verletzt. Ich hatte ihn nicht zurückrufen können, denn er hatte keine Telefonnummer hinterlassen.
Seitdem war die Nachtigall jedenfalls verschwunden. Ende Mai schickte Rosa von Praunheim dann ein Fax. Friedrich sei inzwischen erblindet. Um den mittellosen Schauspieler zu unterstützen, sollten am Abend, im Schöneberger Café Berio, ein paar Sachen versteigert werden. Die Nachtigall würde auch da sein.
Erst ist es lebhaft mit vielem Hallo zwischen den Filmschaffenden, Schauspielern und Gästen. Dann wird es ganz still, als eine schwarz gekleidete schlanke Frau Friedrich Steinhauer an einen der kleinen Tische vor dem Lokal führt. Er trägt einen schönen Anzug und einen bunten Schlips. Seine Gesichtszüge wirken sanfter als früher. Die Frau neben ihm ist Verene, eine Freundin, die ihn vor einem Jahr kennen gelernt hat und sich seitdem viel um ihn kümmert.
Alte Freunde und Bekannte begrüßen, teils noch etwas befangen, die Nachtigall: Elfie Mikesch, die Kamerafrau bei „Horror Vacui“, die später auch so schöne Filme über die drehte, die behindert genannt werden; Rosa von Praunheim plaudert sehr respektvoll mit Friedrich.
Rosa von Praunheim legt eine Kassette auf. Wir hören Ausschnitte aus seinem Hörspiel „Der grausame Sohn“. In dem Hörspiel, das Rosa vor zwanzig Jahren für den RIAS geschrieben hat, geht es um ein Mutter-Sohn-Pärchen. Die Mutter tyrannisiert den Sohn und will nicht, dass er eine Freundin hat. Der Mann der Mutter ist schon tot. Nun hat sie sich einen neuen Mann genommen. Der von Friedrich gesprochene Sohn fesselt die Mutter an einen Stuhl und sagt: „Gott wird dich strafen, wenn du so triebhaft bist.“ Die Rolle ist Friedrich, diesem seltsamen Katholiken, auf den Leib geschnitten.
Danach gibt es noch eine sehr berührende Gesangspassage aus „Horror Vacui“, und Tima die Göttliche beginnt mit der Versteigerung, deren Erlös an Friedrich geht. Fotos und Videos werden versteigert. Bilder von Friedrich, aber auch Nacktbilder von Jeff Stryker, Nurejew, Brad Pitt und Burt Lancaster. Als Rosa sagt, Jeff Stryker habe den Längsten, und zum Beweis ein Bild des Pornostars hochhält, hält sich Friedrich die Hände vor die blinden Augen. Viele geben auch so etwas, aus Sympathie.
Wir sitzen an einem Tisch. Es ist schön, mit Friedrich zu plaudern, und ich bin wieder stolz, ihn zu kennen. Rosa kommt vorbei und fragt: „Geht’s gut?“ – „Na ja.“ Was man halt so redet, wenn man sich schon zwanzig Jahre kennt, aber doch nur von außen. Rosa tätschelt Friedrich ein bisschen den Rücken und stützt ihn, als er dann aufsteht, um mit ausgebreiteten Armen zu singen. Er ist, glaube ich, glücklich, und alle sind ganz still. „Ich glaub, es wird einmal ein Wunder geschehn.“ Man heult fast. „Und nun ein Lied von Marika Rökk, weil die ja auch gestorben ist.“ Gern wäre er von einem Klavier begleitet worden, doch das gibt’s hier leider nicht. Bevor ich gehe, sagt Friedrich, ich solle schreiben: „Stellt euch vor, wen ich heute gesehen habe: die Nachtigall von Ramersdorf! Leider konnte er nicht so sein, wie er sein wollte, denn er ist blind.“
Graue Geschichte
Die 1-Zimmer-Sozialwohnung der Nachtigall liegt in einem Weddinger Hinterhof in der Amsterdamer Straße. Es ist ein grauer Tag. „Klingel bei ‚Arzt‘ “, hatte Verene gesagt, da tönt dann der Türöffner ganz automatisch. Es gibt ein längliches Bad, eine längliche Küche und ein Zimmer. In dem Zimmer stehen ein Büfett, ein großer Kleiderschrank, ein Tisch, zwei Stühle und ein altes Sofa, auf dem Friedrich auch schläft. Durch die Wohnung ziehen sich rote Seile, damit er sich besser zurechtfindet. Es riecht nach Suppe. Friedrich hatte sich schön anziehen wollen, war damit aber nicht fertig geworden. Grad ist ihm auch noch sein Jackett in die Suppe geraten. Friedrich ist schlecht gelaunt wegen seines Missgeschicks, aber auch wegen anderer Dinge. Blind zu werden – „das ist das Schlimmste, was einem Menschen zustoßen kann!“, sagt er mehrmals. Die Jahre gehen vorbei und plötzlich hat man keine Augen mehr. „Aber ich bin doch noch so jung!“ Außerdem hatte er sich wieder mit Rosa gestritten. Und außerdem kommen die täglichen Betreuer leider oft zu unterschiedlichen Zeiten. An diesem Nachmittag erzählt er vor allem traurige Geschichten von Leuten, die ihn betrogen hätten oder von Bekannten, die schon tot sind. „Scheiße, dass die alle schon gestorben sind.“ An der Wand hängt ein Porträt, das Barbara Stummer von Friedrich gezeichnet hat. Vor zehn Jahren hatte sich die Künstlerin, die sehr gut mit Friedrich befreundet war, das Leben genommen.
Er erzählt von André Heller und der Platte, die der Österreicher mit ihm hatte machen wollen. Aber Männer hätten sich einen Spaß mit ihm gemacht und ihn betrunken gemacht. Deshalb hätten die Tontechniker beim Aufnahmetermin vergeblich auf ihn gewartet.
Guter Rat
Tage vergehen. Ich rufe Rosa an. Der Anrufbeantworter von Rosa ist wieder sehr originell und sagt: „Ich habe gesagt: ‚Ich bin eine arme alte fette Tunte.‘ Aber das stimmt gar nicht. Momentan bin ich eine arme alte dünne Tunte.“ Rosa hat ein schönes Porträt in Öl von der Nachtigall gemalt.
Am wichtigsten ist aber Verene. Sie hat Friedrich über eine befreundete Krankenschwester kennen gelernt, die Friedrich in dieser schlimmen Zwischenzeit, als er im Krankenhaus war, betreute. Seitdem sieht sie ihn fast jeden Tag. Manche würden sagen, sie hätte ein Helfersyndrom. Aber die beiden sind ein gutes Team. Nur manchmal regt sich Friedrich, der strenge Katholik, darüber auf, dass sie ohne Trauschein mit ihrem Freund zusammen ist. Verene träumt davon, in einem Haus zwei Wohnungen für sich und Friedrich anzumieten.
Der Sommer wird später und manchmal telefonieren wir. Ich sage, dass ich gerade beim Zahnarzt war. Er sagt: „O weh. Da darfst du jetzt den ganzen Tag nicht rauchen. Ich hatte mal einen Freund. Dem war ein Zahn gezogen worden. Und der hatte zwei Stunden nach dem Zahnziehen geraucht. Dann hatte sich alles entzündet, und in der Nacht ist er gestorben.“
Schönes Lied
Dann besuche ich ihn wieder. Diesmal sieht Friedrich picobello aus mit dunkler Strickjacke, schwarzen Schuhe und Hosen. Kuchen steht auf dem Tisch und im Hintergrund läuft Jazzradio. Verene macht Kaffee. Am Vormittag war sie ein bisschen böse mit ihm. Da hat sie ihn zur ärztlichen Untersuchung begleitet und er hat die Ärztin beschimpft. „Da hab ich mich irgendwie bedrängt gefühlt und bin in die Höhe gegangen und hab die ausgeschimpft“, erklärt Friedrich. „Und dann hab ich mich entschuldigt, und dann hab ich gesagt: ‚Ich brauch mich ja gar nicht zu entschuldigen‘, und bin noch böser geworden. Aber nachher, wie die Verene auf Toilette gegangen ist, hab ich mich noch mal entschuldigt, weil ich sie dumm angeredet hatte. Das ist natürlich ein furchtbares Werk: höflich zu sein zu den Menschen, wenn man immer meint, man ist den anderen Menschen unterlegen, verstehst du? Dann meint man immer, die anderen nehmen einen auf den Arm und du müsstest dich behaupten, weil du doch ein Mann bist, verstehst du, weil du doch kein Hampelmann bist, sondern ein Mann. Und dann musst du doch deine Männlichkeit zeigen, sonst denken die anderen, man wär schwul, und schwul bin ich ja nicht.“
Er sagt das auf eine sehr warmherzige Art. Er hat sich da wirklich Gedanken gemacht. Aber es kränkt ihn, dass manche denken, er sei schwul, nur weil er so gerne die Lieder von Edith Piaf, Marika Rökk, Zarah Leander und Lale Andersen singt und vielleicht auch, weil die Mutter, eine Blumenverkäuferin, ihm immer ein Kleidchen angezogen hat, als sie mit ihm in die Nachtlokale ging, wo er dann sang. Und die Leute haben ihn immer aufgezogen; in Luxemburg, wo er im Kinderheim war, und im schönen München, wo er so lange gelebt hat. Dort hat er in Achternbuschs „Bierkampf“ gespielt und ist zusammen mit Marianne Sägebrecht in der „mad-monday-show“ aufgetreten. Mit den Frisco-Sisters. „Das waren schwule Männer, die als Frauen auftraten, und ich hab Conférencier gemacht: ‚So meine Damen und Herren. Jetzt werde ich Ihnen die Frisco-Sisters vorstellen, die sich hier das erste Mal als Männer behaupten können.‘ Und dann waren die empört über mich.“
Friedrich hat in siebzig Filmen mitgespielt. Viele Projekte sind auch nichts geworden. Es schmerzt ihn, dass Thomas Brasch starb, bevor er Kafkas „Hungerkünstler“ mit ihm in der Hauptrolle verfilmen konnte. Manchmal denkt er, die Menschen hätten ihn verstoßen – „sie haben über mich gelacht, sie haben mich auf den Arm genommen, sie haben mich nicht ernst genommen“ – und dass sie etwas an ihm gutzumachen hätten, „weil sie mich vorher immer verspottet haben. Und alle haben mich übers Ohr gehauen.“
Manchmal weiß er auch, dass die Menschen „nicht irgendwer“ sind und nicht alle „so schlecht und verdorben, dass du denkst, du kannst sie in die Aschentonne schmeißen und sie auf der anderen Seite wieder herausholen“.
Viel Kinoprominenz kommt in seinen Erzählungen vor. Er ärgert sich, wenn man sie nicht kennt. Manchmal muss er auch suchen – „wie heißt der denn noch mal?“ – und ist ungehalten, wenn man ihm nicht helfen kann: „Du weißt ja auch gar nichts. Dann ist es ja sehr schwer, Hand und Fuß zu finden, wenn du nicht den und den Schauspieler kennst. Warum weißt du denn nichts?“
Manchmal bläst er beim Sprechen ein bisschen die Wangen auf. Dann sieht man das Gesicht des kleinen Jungen, der er mal war, in seinem Gesicht. „Meinst du, dass kleine Jungs am glücklichsten sind?“ Das sagt er mit seiner normalen Stimme, um dann in die Stimmlage eines kleinen Jungen zu wechseln, der so gerne mal auf die Oktoberwiese möchte. „Und da möcht ich Karussell fahren und alles anschauen, was da ist. Die Erwachsenen dürfen alles tun, aber ich als kleiner Junge darf nichts tun.“
Nun improvisiert er und wechselt in die Rolle eines forschen jungen Mannes: „Drum bin ich ja achtzehn Jahre alt geworden, um zu sehen, was man mit achtzehn alles anfangen kann. Und weil ich immer versprochen hab bekommen, dass ich, wenn ich erwachsen bin, auf die Wiesn gehen darf und mir sogar ein Mädchen angeln. Hab ich gesagt: ‚Papa, ich bin streng katholisch, ich will noch kein Mädchen haben. Das kann ich immer noch mit 21 Jahren.‘ Weil ich streng katholisch bin und dem lieben Gott eine Freude mache, suche ich mir erst mit 21 ein Mädchen aus.“
„Immer meint man, das falsche Alter zu haben, oder?“ Friedrich antwortet als Franzose: „Das kann ich nischt sagen. Isch kann das nicht sagen. Peut-être, vielleicht ist besser, wenn man nicht erwachsen und kann so viel machen, aber wenn man ist ein Kind, ist besser, weil man wird behütet von Mama, Papa.“
Es macht ihm Freude, so zu improvisieren, und einem selber auch. Eine Weile berlinert er noch an diesem Nachmittag. Dann kommt Paul, ein Betreuer, und ich muss bald gehen und die Nachtigall singt zum Abschied noch ein paar Lieder. „Einsam geh ich durch die Straßen, und ich sehn mich so nach dir“, heißt es in einem.
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