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Archiv-Artikel

Politprofis ohne Partei

„Zivilisatorische Standards durchsetzen“ will das „Horte“, ein Wohn- und Jugendprojekt in Strausberg. Gemeinsam leben und arbeiten ist das Motto

VON RICHARD ROTHER

Igor* ist sauer. Krümel und Papierfetzen liegen auf den blauen Matten des kleinen Sportraums. „Gestern erst habe ich sauber gemacht“, sagt der junge Russlanddeutsche in holprigem Deutsch. „Und heute das!“ Er dreht sich um, versetzt dem Sandsack in der Mitte des Raumes einen gelungenen Seitwärtstritt. Freddy versucht zu beruhigen. Die Kids seien nun mal so, sagt der 28-jährige Deutsche, dem die Rolle des Sozialarbeiters, kombiniert mit jener des Hausmeisters, zufällt. Er werde den Jugendlichen noch mal raten, sich ordentlicher zu benehmen. Igor brummt etwas, wendet sich wieder dem Sandsack zu. Kickboxen trainiert er, und zwar jeden Tag.

Der Sportsaal gehört zum „Horte“, einem alternativen Wohn- und Jugendprojekt in Strausberg, 30 Kilometer östlich von Berlin. Der Name des Projekts mit der über zehnjährigen Geschichte ist doppeldeutig: Zum einen bezieht er sich auf den ehemaligen Schulhort, in dessen saniertem Gebäude das Horte zu Hause ist, zum anderen stammt der Name von „horten“. Einer der Bewohner ist als Metallschrottsammler stadtbekannt. Kunstfiguren fertigt er daraus. Davon zeugen mehrere Skulpturen aus altem Eisen, darunter eine angepinselte Rakete, die im Garten unter hohen Pappeln vor sich hin rostet.

Früher gehörte das Hortgebäude zur Friedrich-Engels-Oberschule, mittlerweile nach Anne Frank umbenannt. Die Schule liegt einen Steinwurf weit vom Horte entfernt, inmitten einer DDR-Fünfzigerjahre-Siedlung. Zu DDR-Zeiten wurde in der Schule erweiterter Russischunterricht angeboten, das heißt, dass die Kinder – für damalige Verhältnisse ungewöhnlich – bereits in der 3. Klasse ihre erste Fremdsprache lernten. In der Kneipe des Horte, dort, wo vor 15 Jahren Grundschüler Lieder wie „Katjuscha“ oder „Immer lebe die Sonne“ – natürlich auf Russisch – sangen, läuft heute laute Punk- oder HipHop-Musik. Nachmittags ist es ein Jugendcafé ohne Alkoholausschank und abends eine Kiezkneipe für alternative Strausberger. Die Vorteile des Lokals: Man kennt sich, das Bier ist billig, das selbst gekochte Essen auch. „Und hier reiten keine Faschos ein“, sagt Jana, eine 21-jährige Horte-Aktivistin.

Der letzte Übergriff von Rechtsradikalen liegt schon ein paar Jahre zurück, und nur ab und an gibt es mal ein paar Provokationen der Szene – dennoch beschäftigt das Thema die Horte-Leute immer wieder. „Klar, wenn kleine Skater angemacht werden, können die immer zu uns kommen“, sagt einer.

Im lang gezogenen Strausberg sind die Reviere abgesteckt: Im Zentrum haben die Linken das Sagen, in der Vorstadt die Rechten und im Plattenbauviertel dazwischen die Russlanddeutschen. Probleme gibt es immer wieder in der S-Bahn und der Tram, die die Quartiere miteinander verbinden. Zimperlich ist man dabei nicht: Als sich eine rechte Wohngemeinschaft in der Innenstadt niederlassen wollte, gingen so lange nachts die Scheiben kaputt, bis die WG wieder ausziehen musste.

Das Horte ist jedoch mehr als eine linke Kneipe mit lauter Musik, zerschlissenem Billardtisch und dunklen Wänden. Fahrrad-, Siebdruckwerkstatt und eine kleine Bibliothek mit Internetzugang, ein Proberaum für junge Bands und eine Wohngemeinschaft befinden sich ebenfalls in dem zweistöckigen Gebäude. „Wir wollen hier selbstbestimmt leben, arbeiten und uns politisch einmischen“, sagt Jana.

Neun Leute wohnen zurzeit in der Horte-WG, in deren Fluren unzählige linke Aktionsplakate hängen und in deren durchaus aufgeräumter Küche gerade – wie könnte es anders sein – Spaghetti mit Tomatensoße aufgetischt werden. „Selbstbestimmt leben“ heißt übrigens: regelmäßige Treffen abhalten, die Horte-Räume, Kneipe und das Jugendcafé mit organisieren. Vor allem aber ansprechbar sein. „Manchmal nervt es schon, wenn alle zehn Minuten einer klingelt, weil irgendwo irgendetwas fehlt“, sagt Freddy. Und schwierig sei es manchmal, „die Privatsphäre zu wahren“, ergänzt Jana.

Aber das gehört dazu: Wer in der WG kostengünstig wohnen will, muss sich einbringen. Dass einer einen 60-Stunden-Job macht und im Horte wohnt – undenkbar. „Wenn Löhne und Arbeitslosenunterstützung so gering sind, muss man die Lebenshaltungskosten kollektiv drücken“, sagt der 24-jährige Rico, der seit sechs Jahren in dem Gebäude wohnt. Das gemeinsame Auto gehört ebenso dazu wie die Kooperation mit einer Ökobäckerei, die gegen kleinere Arbeiten Brote rüberreicht.

Die Horte-Leute wissen, wovon sie reden: Rico und Jana sind Ich-AGs, halten sich mit Botendiensten, Handwerkereien oder Kellnern über Wasser; Freddy ist erwerbslos. Knapp 20 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote in Strausberg, Jobs gibt es kaum. „Aber wir wollen hier bleiben“, meint Rico. Er fängt im September eine Ausbildung als Wohnungskaufmann an.

Die Geschichte des Horte begann 1992. Nachdem der größte Jugendclub der Stadt geschlossen worden war, besetzten Jugendliche eine alte, schön gelegene Villa in der Nähe des Straussees. Ein jahrelanger Streit zwischen Besetzern und der Stadt entbrannte, die die Villa „Eckartstein“ für den Alteigentümer räumen lassen wollte. Schließlich bot sich 1995 mit dem Horte ein Ausweichprojekt an, und der Streit konnte ohne Konfrontation gelöst werden. Die Besetzer zogen aus – die Villa allerdings steht heute noch leer.

In der Stadt verlief die damalige Entscheidungsfindung grotesk: Die SPD-Stadtregierung war für das Ausweichobjekt, die PDS dagegen – sie fürchtete offenbar Lärmbelästigung ihrer in den angrenzenden Blöcken wohnenden Klientel durch die Jugendlichen. Weil die PDS dagegen war, stimmte die CDU dafür, und mit einer Stimme Mehrheit im Stadtparlament wurde der Umzug der Besetzer beschlossen. Rico: „Das ist die Entscheidung, über die sich die CDU wohl heute noch am meisten ärgert.“

Für die Stadt Strausberg und die Besetzer war es eine Win-win-Lösung: Die Besetzer bekamen ein Haus, und die Stadt erhielt einen funktionierenden Jugendclub, ohne teure Sozialarbeiter bezahlen zu müssen. Jährlich überweist die Stadt, wenn sie gerade Geld hat, einen niedrigen fünfstelligen Betrag – und hat dafür viele Jugendliche von der Straße bekommen. Bis 19 Uhr gibt es im „Horte“ keinen Alkohol, Kiffen ist für Jugendliche tabu. Macht einer bei einem Konzert einen Schwulenwitz, fliegt er schon mal für den Abend raus. „Zivilisatorische Standards durchsetzen“ nennt Rico das. Nichtdeutsche anpöbeln oder Frauen blöd anmachen – tabu. Jana: „Wir sind da sensibilisiert.“

Das Horte will nicht nur der „kapitalistischen und politisch versumpften Welt etwas entgegensetzen“, wie es auf der Homepage heißt, sondern es mischt sich auch konkret in die Kommunalpolitik ein. Als die Stadt einen Teil des Stadtwaldes für Eigenheimsiedlungen verkaufen wollte, unterstützen Horte- Leute eine Bürgerinitiative, die Unterschriften gegen das Projekt sammelte. Auch gegen die Schickimickisierung des schönen Straussee-Ufers setzten sie sich ein. Ein weit gefächertes Netzwerk mit anderen Gruppen und Initiativen hilft dabei, und mit Rathausabgeordneten gibt es regelmäßigen Austausch.

Reden sie über Kommunalpolitik, kommen den Hausbesetzern der zweiten und dritten Generation Sätze wie „Im Haushalt klafft ein großes Loch“, „Die Macht der Kommune ist begrenzt“ und „Der Stadt fehlt ein Leitmotiv“ locker über die Lippen. Sie sind – Politprofis ohne Partei.

Vielleicht hilft ihnen das, sich ihren großen Traum zu erfüllen: irgendwo mit Hilfe alternativer Geldgeber ein neues Haus zu bekommen. Ein Haus, in dem Platz ist für Büros, Läden, Seminare, alternative Arztpraxen. Jana: „Wir wollen, dass die Leute hier bleiben und nicht nach Berlin gehen.“

*Alle Namen geändert