: Zerrbild des Westens
Durch ihre Abschottungspolitik befördert die EU illegale Migration. Europa braucht keine Flüchtlingslager, sondern durchlässige Grenzen und klare Regeln für Einwanderer
Wenn über Auffanglager für Flüchtlinge an der afrikanischen Küste debattiert wird, dann entsteht vor dem inneren Auge unwillkürlich dieses Bild: Zusammengekauert auf tausenden von Nussschalen, setzen die Verdammten dieser Erde tagtäglich ihr Leben aufs Spiel, um in den freien Westen zu gelangen. Aber wird dieses Bild eigentlich der Wirklichkeit gerecht? In der jetzigen Diskussion gibt es zwei Voraussetzungen, die kaum einmal in Frage gestellt werden. Zum einen heißt es immer: Die Menschen auf den Booten sind Flüchtlinge – potenzielle Bewerber um Asyl. Als Problem werden daher vor allem „falsche“ Asylbewerber gesehen, die man eben aussortieren müsse. Nur wo? In Europa? Diese Frage führt zur zweiten Voraussetzung: Als Anreiz für andere Migranten wird es gesehen, wenn menschenfreundliche Helfer alle Schiffbrüchigen im Mittelmeer erst mal nach Europa bringen – und man dort erst über ihren Status entscheidet. Selbst von liberaler Seite wird dieser Einschätzung von Otto Schily durchaus zugestimmt.
Tatsächlich sind beide Voraussetzungen falsch. Es geht schon längst nicht mehr in erster Linie um Flüchtlinge, sondern um Menschen, die in Europa ein besseres, vielleicht auch nur ein interessanteres Leben suchen, was in jedem Fall bedeutet: Sie suchen Arbeit. Zudem führt die Aufnahme von solchen Personen in Europa keineswegs notwendig zu einem größeren Einwanderungsdruck. Erst durch ihre Abschottungspolitik in den 90er-Jahren hat die Europäische Union dazu beigetragen, dass etwa in den afrikanischen Ländern ein vollkommen unrealistisches Bild des Westens entstanden ist – ein ähnliches Bild hatten auch die Bewohner des Ostblocks vom Leben hinter dem Eisernen Vorhang. Es war die Politik der EU, die in den letzten 15 Jahren genau den Strom an „illegalen Einwanderern“ produziert hat, den sie doch angeblich bekämpft.
Zur Erläuterung bietet sich das Beispiel der marokkanischen Einwanderung nach Spanien an. An der andalusischen Küste wird bekanntlich Gemüse angebaut, und die Region hat immer Einwanderer gebraucht: Zunächst kamen sie aus Spanien selbst, dann hauptsächlich aus Marokko. Bis die EU durch ihre rigide Grenzpolitik 1991 den Visumzwang für Marokkaner durchsetzte, konnten sich die meisten Arbeitsmigranten legal in Andalusien aufhalten. Erst danach mussten die Einwanderer, die von den Arbeitgebern in der ansässigen Landwirtschaft selbstverständlich weiterhin in großer Zahl benötigt wurden, oft auf „Schlepper“ zurückgreifen, um ihre Reise nach Europa zu organisieren. Früher kehrten die Migranten oft nach einer gewissen Zeit nach Marokko zurück. Heute jedoch ist die saisonale Ein- und Ausreise kriminalisiert worden, und so versuchen jene Menschen, die in Spanien Fuß gefasst haben, nun dauerhaft in Europa zu bleiben.
Wenn die „Papierlosen“ von der spanischen Polizei aufgegriffen werden, dann berufen sie sich erwartungsgemäß auf ihr Recht auf Asyl. Das wird ihnen gewöhnlich nicht gewährt. Aber wer lange genug in der Unsichtbarkeit durchhält, der kann damit rechnen, dass er irgendwann in einem Gnadenakt der Regierung „regularisiert“ wird. Das ist eine Art Einwanderungspolitik: Man produziert, wie es einmal im marxistischen Vokabular hieß, eine „Reservearmee“ von potenziellen und tatsächlichen „Illegalen“, die in einem permanenten Schwebezustand gehalten werden. Das bedeutet für die Arbeitgeber in der Landwirtschaft Flexibilisierung und Verbilligung von Arbeitskraft. Zudem ergeben sich Auswirkungen auf die einheimischen Arbeitskräfte, die durch die Konkurrenz zunehmend unter Druck geraten. Rassistische Ausschreitungen wie im vorigen Jahr in El Ejido wären noch vor zehn Jahren in Andalusien undenkbar gewesen. Gerade an den südlichen Rändern Europas hatten die Menschen ein deutliches Bewusstsein davon, wie es ist, ein besseres Leben irgendwo anders zu suchen. Und so verhielten sie sich gegenüber den arabischen Migranten hilfsbereit. Seitdem die EU jeden Araber unter den Verdacht der „Illegalität“ stellt und die Einwanderer als Bedrohung für den eigenen Job wahrgenommen werden, hat sich das geändert. Man kann also sagen, dass die EU-Bürger an der europäischen Peripherie seit 1989 eine Erziehung zum Rassismus durchlaufen haben.
Es mag seltsam klingen, aber gerade all diese Hürden machen Europa insbesondere für junge Männer etwa in Marokko noch attraktiver. Als es noch reguläre Einwanderung gab, konnten die Migranten den daheim Gebliebenen eine realistische Vorstellung von Europa vermitteln – eine Vorstellung, in der Europa nicht nur als Paradies voller Möglichkeiten erschien. Daher sind es heute gerade diejenigen, die ihre Eindrücke von Europa aus dem allgegenwärtigen Fernsehen beziehen, die das Gefühl haben, dass sie von der Chance auf ein erfülltes Leben ausgeschlossen werden. Je höher die Mauer nach Europa wird, desto drängender entsteht bei Bewohnern armer Länder der Eindruck, dass ihnen das wahre Leben vorenthalten wird. Dabei kann die lebensgefährliche Reise nach Europa selbst zu einem Ereignis werden, das dem Leben in langweiligen marokkanischen Kleinstädten einen Hauch von Glamour verleiht. Derweil erzählen die jungen Männer ihre Erlebnisse von heldenhaften Überfahrten nach Lanzarote wie die Touristen im Westen die ihren vom letzten Aktivurlaub. Die jungen Migranten sind in vielen Fällen keineswegs die Ärmsten der Armen: Das zeigen schon die exorbitanten Preise der „Schlepper“.
Die Geschichte der spanischen Grenzpolitik ist in der EU keine Ausnahme – ganze ähnliche Entwicklungen lassen sich in Italien beobachten oder in den alten und neuen Staaten an der Ostgrenze Europas. Dass die Europäische Union die Arbeitsmigration verleugnet und illegalisiert, gibt ihren Politikern die Möglichkeit, Bedrohungsgefühle zu schüren und sich dann im Sommerloch mit Vorschlägen über Lager an den afrikanischen Küsten zu profilieren. Was aber wäre die Alternative? In seinem Buch „Sind wir Bürger Europas?“ hat der französische Philosoph Etienne Balibar einen interessanten Vorschlag gemacht. Er meinte, dass die Forderung nach „offenen Grenzen“ falsch sei, weil eine komplett ungeregelte Einwanderung zurzeit eine Ausweitung des „Raubtierkapitalismus“ bedeuten würde. Er schlug dagegen eine Demokratisierung der Grenze vor: Wer wann und wie über die Grenze kommt, müsse zum Gegenstand des politischen Aushandelns werden – und zwar mit allen Akteuren, also auch den Migranten. Anstatt über Flüchtlingslager zu debattieren und die Grenzen immer weiter in andere Länder hineinzuverlegen, brauchte die EU durchlässige Grenzen und eine klare Einwanderungspolitik. Es geht um transparente und verhandelbare Regeln, die es Personen ermöglicht, in Europa zu arbeiten und zu leben. Dann würde sich auch herausstellen, dass die immer wieder beschworenen Massen, die nach Europa wollen, nur in den Köpfen bestimmter Politiker existieren.
MARK TERKESSIDIS