Keine Angst vor Deng!

Dengs ursprüngliches Verdienst lag in der Revolte gegen die ParteilinieDeng hat die Armut bekämpft – und blutig die Studentenrevolte niedergeschlagen

AUS PEKING GEORG BLUME

Man glaubt die chinesischen Kommunisten stark: zweistelliges Wirtschaftswachstum, die höchsten Auslandsinvestitionen der Welt, geringe Inflation, hohe Devisenreserven, dazu die Fähigkeit, jährlich zehn Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen. Was hindert die KP Chinas eigentlich am Feiern?

Feiern müsste die Partei dieser Tage, wenn sie von der eigenen Stärke wirklich überzeugt wäre: Deng Xiaoping, ihr neben Mao Tse-tung wichtigster historischer Führer, wäre am 22. August 100 Jahre alt geworden. Nichts und niemand im blühenden KP-Land ist heute vorstellbar ohne den „Kleinen Steuermann“: Kein Privatbetrieb, kein Hochhaus, kein Tourist. Der militärische Oberbefehlshaber Jiang Zemin verdankt Deng seine Ernennung, Partei- und Staatschef Hu Jintao wurde ebenfalls noch von Deng für seine Ämter aufgestellt. Warum aber ist dann außer einer ideenlosen offiziellen Zeremonie in der Großen Halle des Volkes keinerlei Spektakel, kein Volksfest vorgesehen, um Deng hochleben zu lassen? Noch vor elf Jahren, zum 100. Geburtstag Mao Tse-tungs, schwelgte das ganze Land im Gedenken an den „Großen Steuermann“. Die Partei organisierte überall Diskussionsveranstaltungen. Jeder Taxifahrer hatte damals ein Mao-Feuerzeug, an den Schulen sangen sie wieder Mao-Lieder und die Buchläden waren voller Mao-Bücher. Nichts davon heute: Von hundert geplanten Büchern über Deng befindet sich bislang keines im Druck. Die Propagandazentrale der Partei hat alle Manuskripte eingesammelt, um sie sorgfältig zu prüfen. Auch gibt es bis heute kein einziges Deng-Lied, geschweige denn ein Deng-Feuerzeug. Die Erklärung für so viel Deng-Enthaltsamkeit aber liegt längst nicht mehr darin, dass sich der Betroffene aus Ekel vor dem Maoismus einst jeglichen Kult um seine Person verbat. Auch dem ehrenvollsten Vorgänger sind die Herrschenden nicht geneigt, posthum seine Wünsche zu erfüllen. Der Grund liegt woanders: Dengs Erfolg lässt sich nicht nachahmen, seine Autorität nicht wieder herstellen. Ihn zu feiern, hieße für Jiang und Hu, sich in seinen Schatten zu stellen. Da hält man es lieber mit Mao, dem folkloristisch-religiös vermarktbaren Bauernsohn. Noch immer schmückt sein Porträt das Tor des Himmlischen Friedens am Tiananmenplatz in Peking. Dengs Bild an dieser Stelle aufzuhängen, käme auch heute noch einer Revolution gleich.

„Ich erinnere mich an ein altes Haus in Schanghai, in dem meine Eltern und ich als kleines Mädchen mit ganz vielen Menschen zusammenlebten“, sucht die Kultschriftstellerin Mian Mian nach Dengs Bedeutung in ihrem Leben. Mian Mian, Anfang dreißig, rot gefärbte Haare, Sonnenbrille, ist außerdem Rave-Promoterin, kennt die Untergrundwelten der Großstädte, liebt Film und Literatur, doch die Politik ist ihr völlig fremd. Trotzdem sagt sie: „Deng war mir nie unsympathisch.“ Ihr Eindruck aber rührt aus dem Kindesalter. „Gleich neben unserem Haus stand eine Fabrik“, setzt Mian Mian ihre Erzählung fort. „Ich konnte aus dem Fenster auf den Fußboden der Fabrik schauen, auf dem in großen Schriftzeichen gemalt war: Tötet Deng Xiaoping! Ich verstand nicht, wer es war, den man töten wollte, und warum. Aber so hat sich sein Name mir eingeprägt.“

Abermillionen Chinesen ging es damals nicht anders. Es war das Jahr 1976. Im April hatte Mao den damaligen Premierminister Deng zum dritten Mal in seiner Laufbahn all seiner Parteiämter entledigt. Daraufhin veranstaltete die so genannte Viererbande um Maos Ehefrau Jiang Qing, die damals den Propagandaapparat der Partei beherrschte, eine nationale Hetzjagd auf Deng. Ihm wurde vorgeworfen die Sache der Kapitalisten und Konfuzianer zu vertreten. Es ging um Dengs Leben. Ganz China wusste das. Wie er überlebte, weiß bis heute niemand genau. Noch immer streiten sich seine Biografen, ob er bis zur Inhaftierung der Viererbande nach Maos Tod im September 1976 unter dem Schutz von Freunden in der Hauptstadt verweilte oder Peking fluchtartig gen Süden verlassen hatte. Wie dem auch sei: Vielen Chinesen trat Deng einst als Widerstandskämpfer gegen die Parteiführung ins Bewusstsein, und zwar als einer, der für den ideologischen Ungehorsam sein Leben riskierte. Später war er derjenige, der mit der Kulturrevolution aufräumte, der als Erster wagte, Mao öffentlich zu kritisieren – auch wenn die Kritik einigen nicht weit genug ging. Das alles qualifiziert ihn bis heute nicht zum Helden der offiziellen Parteigeschichte. Im Gegenteil: Intuitiv wissen die meisten Chinesen, dass Dengs ursprüngliches Verdienst in der Revolte gegen die Parteilinie lag. Sie erinnern sich an die Parole: Tötet Deng Xiaoping! Also verzichtet die Partei heute auf große Feierlichkeiten.

Hinzu kommt, dass sich Dengs ureigenste Leistung als Regierungschef propagandistisch für die Partei nur schwer ausnutzen lässt. Deng war stets fest überzeugt, dass „Abkapselung jedes Land an der Entwicklung hindert“. So sorgte er für die Eröffnung diplomatischer Beziehungen zu Japan und den USA, richtete die berühmten „Sonderhandelszonen“ für ausländische Investoren ein und wurde nie müde, das von ihm erfundene Politikkonzept der offenen Tür zu preisen. Oft referierte er, dass seine Vorgänger das Land jahrhundertelang zu Unrecht von der Welt isoliert hatten. Tatsächlich ist Chinas Öffnung unter Deng einmalig in der 5.000-jährigen Geschichte des Landes. Doch wie das heute feiern? Mit amerikanischer Bigband und bayrischen Volkstanz auf dem Tiananmenplatz?

„Das Besondere an Deng war, dass an ihm anders als bei Mao kaum Spuren alter chinesischer Kultur oder Philosophie hafteten“, bemerkt der Schriftsteller Xu Xing, ein zurückgezogen im alten Peking lebender literarischer Rebell, der viel über den Kulturverlust der chinesischen Gesellschaft klagt. Aus seiner Haltung heraus könnte Xu Deng Vorwürfe machen. Doch es wie bei Mian Mian: Er nimmt Deng nichts aufs Korn. „Deng wollte etwas Gutes für unser Land tun und hat es auch getan“, meint Xu. Wenn einer wir er, dessen Bücher erst heute, nach zehn Jahren Publikationsverbot, wieder gedruckt werden dürfen, so etwas sagt, ist es nicht gut für die Partei. „Deng war viel westlicher als seine Zeitgenossen. Er spielte gern Bridge, interessierte sich für Fußball, aß gern Croissants“, resümiert Xu. „Aber was er tat, war nicht seine eigene Erfindung, sondern logisches Ergebnis der Entwicklung.“ Auch Xus Worte erklären, warum die Partei den Kleinen Steuermann nicht feiern kann: Deng, ein verwestlichter Kulturnarr, der nur dem kapitalistischen Entwicklungsdiktat gehorcht – so einer taugt genauso wenig zum kommunistischen Götzen wie ein Maoistenbekämpfer und Grenzenöffner.

Wie aber löst Zhao Zhikui das Problem? Der Professor im lila Polohemd ist Leiter des Instituts für Deng-Studien der Pekinger Sozialakademie. Seine Aufgabe liegt darin, Dengs Erfolge so darzustellen, dass sie für die Partei heute noch wichtig sind. Zhao weiß alles über Deng: Wie er zum Beispiel am 14. August 1972 von Mao nach seiner zweiten Verbannung rehabilitiert wurde, aber Premier Zhou Enlai die entscheidene Rolle dabei spielte. Wo sieht Zhao bei Deng den roten Faden verlaufen? „Er war ein typischer Kommunist“, erklärt Chinas maßgeblicher Deng-Forscher. „Die Abschaffung des Privateigentums und die Befreiung der Welt waren wichtige Ziele für ihn.“ Man traut seinen Ohren nicht. Hatte Dengs Reformpolititik nicht mit der Privatnutzung der Felder begonnen und letztlich zur Zulassung von Privatunternehmen geführt? „Deng hat immer den Vorrang des Gemeineigentums betont“, entgegnet Zhao. „Richtig ist nur, dass er den Aufbau einer Marktwirtschaft in einem kommunistischen Land befürwortet hat.“ Aber was ist diese Marktwirtschaft heute anderes als Kapitalismus? „Zur Deng-Theorie gehört, dass alle gemeinsam reich werden.“ Warum wachsen dann die Einkommensunterschiede in China schneller als in jedem anderen Land der Welt. „Die Entwicklung ist immer noch im Rahmen der Deng-Theorie“, beschließt Professor Zhao das Gespräch. Wonach kaum klarer geworden ist, wie man Deng als „typischen Kommunisten“ bezeichnen kann.

Der Mann passt eben in kein ideologisches Korsett. Auf einer klugen Landreform gründete er seine Wachstumspolitik. 400 Millionen Chinesen half er die Armutsgrenze von einem Dollar Tagesverbrauch zu überspringen. In keiner Regierungszeit der Menschheitsgeschichte wurde je so erfolgreich die Armut bekämpft wie unter Deng Xiaoping. Aber er war auch derjenige, der im Frühjahr 1989 den Befehl zur blutigen Niederschlagung der Studentenrevolte gab. Zwischen 600 und 1.200 Zivilisten kamen damals nach westlichen Schätzungen ums Leben. Die Angehörigen der Opfer nennen ihn deshalb noch heute einen „Mörder, den man nicht verzeihen kann“.

Dennoch war Deng Xiaoping wohl der erfolgreichste chinesische Politiker der letzten Jahrhunderte. Dass man seiner nicht populär zu gedenken weiß, zeugt von der Schwäche von Partei und Regierung. Aber auch von der Vielschichtigkeit des Phänomen Deng.