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Archiv-Artikel

Mahatma Gandhi macht Schule

Indien steht im Mittelpunkt der Asien-Pazifik-Wochen: Den Schülern der Mahatma-Gandhi-Oberschule in Marzahn ist der Subkontinent längst vertraut. Sie besuchen regelmäßig ihre zwei Partnerschulen in Indien. Heraus kommen neue Ideen über Respekt, Zufriedenheit im Leben und Sonnenkollektoren

„Beeindruckend, wie die Schüler sitzen, mit dem Lehrer sprechen, und so viel Respekt …“

von MONA MOTIRAMANI

Mahatma Gandhi, nachdenklich und in sich gekehrt. So begegnet er einem, wenn man den Haupteingang der Mahatma-Gandhi-Oberschule in Marzahn betritt. Die Büste Gandhis wurde 1998 von der Frau des damaligen indischen Präsidenten K. E. Narayanan enthüllt, ein Jahr, nachdem die Schüler ihre Schule nach dem großen Symbol der Gewaltlosigkeit getauft hatten.

Früher hieß sie einmal Komarow-Oberschule, nach einem sowjetischen Kosmonauten. Nach der Wende verlor sie diese Bezeichnung. Sieben namenlose Jahren vergingen. Dann hatten die Schüler genug. Unter den vielen Vorschlägen, die sie einreichten, entschieden sie sich für Mahatma Gandhi.

Ein Name, der verpflichtet. Angeregt durch Ernst-Gottfried Buntrock, den Pfarrer der evangelischen Gemeinde und Vorsitzenden des Ökumenischen Forums von Berlin-Marzahn, suchten sie Kontakte. Buntrock hatte die Lutheran High School im Dorf Chaibasa im südindischen Bundesstaat Djarkand schon mehrmals besucht und den Schülern davon erzählt. Vom Volk der Adivasi, das dort lebt, das zu den Ärmsten der Armen gehört. Von den Schulen, in denen es an allem fehlt.

Den letzten Kick gaben dann noch die Vorträge des früheren Botschafters der DDR in Indien, Herbert Fischer. Er hatte Gandhi noch persönlich gekannt und einige Zeit bei ihm gelebt.

Alex war einer der ersten Schüler, die in einer Gruppe vergangenen Oktober nach Chaibasa reisten. Massen von Menschen empfingen sie dort. „Wir trauten unseren Augen kaum, es waren bestimmt über 1.000, die uns einfach herzlich begrüßten.“ Die farbenprächtige Kleidung, Musik, Gesang und Tanz beeindruckte den Abiturienten. Auch der 18-jährigen Tamara prägte sich diese Szene besonders ein: „Ich hab einfach gesehen, dass sie sich gefreut haben. Sie waren viel glücklicher vielleicht als einige Deutsche.“ Dieser Eindruck blieb nicht ohne Wirkung. „Ich habe mir vorgenommen, hier in Deutschland diese Wärme auch so auszustrahlen.“

Sebastian war mit seiner Gruppe nach Neu-Delhi geflogen, um dort die andere Partnerschule, die private Springdale School zu besuchen: „Beeindruckend, wie die Menschen unter den ärmsten Verhältnissen gelebt haben, auf der Straße sich gewaschen haben, ihre Notdurft verrichtet haben.“ Verwirrend schien das Nebeneinander von Hütten und Palästen.

War dieses Gefühl, aus einer so reichen Gesellschaft wie der deutschen zu kommen, schon nahezu beschämend für die Schüler – wurden ihre Besuche in den indischen Schulen zu einer harten Lektion. Tamara: „Für die indischen Schüler ist es eine Ehre und eine Freude, in die Schule zu gehen.“ Die Schülerin zieht unweigerlich Vergleiche zwischen hier und dort: „Allein wie sie sitzen, wie sie mit dem Lehrer sprechen und aufstehen, ihm direkt in die Augen gucken – und so viel Respekt.“ Tamara wünscht sich solchen Unterricht auch in Berlin. Sie will nicht mehr so einen „Larifari-Unterricht“, wie sie sagt. Alex hatte in Chaibasa die Gelegenheit, eine Mathematikstunde mit 120 Schülern in einem Klassenraum zu beobachten: „Sie sitzen eng beieinander und dennoch ist es mucksmäuschenstill, wenn der Lehrer etwas erklärt.“ Für ihn ist klar: Das spiegelt sehr die Einstellung zum Lernen wider, die Möglichkeit zu haben, sich Bildung zuzuführen. Der junge Mann ist überzeugt, dass diese Tugenden in Deutschland im Laufe seiner Geschichte eine Wendung ins Negative erfahren haben.

Doch wäre es wirklich toll, wenn die Gandhi-Oberschüler sich immer so respektvoll gegenüber dem Mathelehrer verhalten würden? Sebastian bejaht dies: „Heutzutage sind die Kinder schon von zu Hause aus gewöhnt, dass sie alles dürfen.“ Was folgt, ist klar. „Wenn sie vor ihren eigenen Eltern keinen Respekt mehr haben, was soll dann der Lehrer machen?“ Sebastian lebte in Neu-Delhi bei einer Gastfamilie und erlebte dort hautnah den Familienalltag. „Der Respekt unter den Familienmitgliedern ist ganz anders als bei uns. Der Opa ist das Oberhaupt, und die Enkel berühren als Zeichen der Wertschätzung seine Füße.“ Ein Familienoberhaupt, das den Ton angibt und Kinder, die nicht aufmucken? Ritual oder Grundvertrauen? Sebastian war jedenfalls tief berührt. Für die Berliner Schüler wünscht er sich, dass zu Hause mehr miteinander geredet wird. „Dass einfach mal gefragt wird, wie war dein Tag, was hast du erlebt, hat es dir Spaß gemacht?“

Doch die Schüler brachten noch andere Ideen vom Subkontinent mit. Nachdem Sebastian dort die Schuluniform kennen gelernt hat, ist er überzeugt, dass sie „eine Gleichheit schafft und nicht mehr nur geguckt wird, was hat der andere an, aus welcher Gegend kommt der“. Gleichmacherei meint er damit keineswegs, denn für die schulischen Leistungen wünscht sich Sebastian mehr Anerkennung – auch von den Mitschülern. „Hier ist es schlecht, ein guter Schüler zu sein, man wird gleich als Streber abgestempelt.“

Reisen bereichert, aber nicht nur die Schüler. Auch die Lehrer haben Erfahrungen gesammelt, ihre indischen Kollegen beobachtet und neue Lehrmethoden kennen gelernt. Edith Daling, eine junge Deutschlehrerin an der Mahatma-Gandhi-Oberschule, hat die Schüler nach Neu-Delhi begleitet. Besonders beeindruckt war sie von einem allmonatlich stattfindenden Diskussionsforum, auf dem die Schüler die Redner waren: „Sie mussten ganz bestimmte Kriterien erfüllen: Länge und Thema waren festgelegt, sie mussten die Pro- und Contra-Seiten abdecken und sich schließlich für eine Position entscheiden. Was dabei entstand, war faszinierend.“

Solche Diskussionsforen auch bei sich an der Schule einzuführen, hat Daling bereits angeregt. Umgekehrt waren zwei indische Lehrerinnen der Springdale School nach ihrem Besuch in Marzahn besonders beeindruckt von der Selbstständigkeit der Jugendlichen. Das seien sie von ihren eigenen Schülern nicht gewohnt.

Doch der Austausch, der in wenigen Wochen mit einer erneuten Indien-Reise einer Schülergruppe fortgesetzt wird, provoziert noch andere Fragen. Der Bischof und ein Lehrer der Lutheran High School aus Chaibasa kamen nicht nur zur Teilnahme am Ökumenischen Kirchentag nach Berlin. Sie informierten sich hier zugleich über Solarenergie. Der Grund: Die Berliner hatten als Gastgeschenk gebrauchte Computer mitgebracht, die sie in Chaibasa einrichteten. Das immer wieder zusammenbrechende Stromnetz dort hatte sie zudem auf die Idee gebracht, Sonnenkollektoren zu installieren.

Die Schüler, die in Indien waren, haben mehr mitgenommen, als indische Schüler, die hier herkommen, ist sich Pfarrer Buntrock sicher. „Mindestens haben sie was mitgenommen für ihr Leben.“ So sehen das auch Alex, Sebastian und Tamara. Daher wollen sie ihre Erfahrungen an die nachfolgenden Schülergenerationen weitergeben. Sie haben an ihrer Schule dazu das „Indische Forum“ gegründet. „Es soll den Schülern den Geist öffnen für Gandhi, für Indien, die Kultur und die Lebensweise“, erhofft sich Alex. „Auf der anderen Seite wollen wir auch etwas in Indien selbst tun.“ So wollen die Engagierten auch die Partnerschaften zu den beiden Schulen aufrechterhalten und intensivieren, einen regelmäßigen jährlichen Austausch beiderseits ermöglichen, „damit sich möglichst viele Schüler kennen lernen“.

Für die drei jedenfalls sieht ihr Leben nach Indien anders aus als vor ihrer Reise. „Ich habe ein Verständnis für das entwickelt, was ich selbst in diesem Land, in meinem Leben in Deutschland, besitze. Es ist wohl erst möglich, das schätzen zu können, wenn man ein krasses Gegenteil kennen gelernt hat“, vermutet Alex. Er wünscht sich, dass die Menschen in Deutschland aufhören zu jammern über das, was sie nicht haben, sondern sehen, was sie haben.