Der Geist, der aus der Provinz kam

Kaum eine Lokalzeitung gab sich so respektlos und feingeistig wie das „Schwäbische Tagblatt“. Mit großer Wirkung: In den Achtzigern lag der Nabel der Zeitungswelt auch in Tübingen. Mittlerweile ist das „Tagblatt“ aber eine Lokalzeitung wie andere auch. Nun hat Verleger und Chefredakteur Christoph Müller – der Mann, dessen Name für aufgeklärte Rebellion stand – sein Blättle gar verkauft

VON PHILIPP MAUSSHARDT

Das Spiel dauerte 35 Jahre. Und jetzt, wo der Mannschaftskapitän vom Platz geht, weiß man nicht einmal genau, wer gewonnen hat. Am ehesten noch die Leser des Schwäbischen Tagblatts, der in Tübingen erscheinenden Lokalzeitung. 35 Jahre lang lenkte der Verleger und Chefredakteur Christoph Müller die „Neckar-Prawda“, wie sie liebevoll und hasserfüllt zugleich gerufen wurde. Jetzt wirft er den „Bettel“ hin und löscht das Licht. Müller will mit 66 Jahren nicht mehr Provinzfürst sein. Er hat seine Zeitung verkauft und seine Koffer gepackt. Mit dem Geld will er sich einen schönen Lebensabend in Berlin machen.

Vom Tübinger Hölderlin-Turm aus ließ sich in der Vorweihnachtszeit in manchen Jahren ein merkwürdiges Spektakel beobachten. Aus den Räumen eines Gebäudes auf der anderen Flussseite des Neckars flog aus dem dritten Stockwerk ein brennender Adventskranz hinunter ins Wasser, und aus dem offenen Fenster hörte man den Gesang einer fröhlichen Menschenmenge: „Schmiert die Rotationen mit Verlegerblut.“ Wieder einmal war Weihnachtsfeier im Schwäbischen Tagblatt und die Redakteure und Redakteurinnen brachten ihrem Chef Christoph Müller ein Ständchen. Der stand, den Kopf leicht zur Seite geneigt, auf dem Flur, ein Weißweinglas in der Hand, und lächelte. Sollte der örtliche CDU-Vorsitzende dabei zufällig über die Neckarbrücke gelaufen sein, er hätte nur den Kopf geschüttelt und „typisch“ gemurmelt.

Blüte im Verlegersumpf

Kaum eine andere Lokalzeitung gab sich so unkonventionell und respektlos wie das Tagblatt, „bitte mit ohne e“, wie Müller jedem Besucher aus Norddeutschland ans Herz legte. Hier in der schwäbischen Provinz entwickelte sich unter seiner Regie seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts eine journalistische Blüte im Sumpf einer von kleinmütigen und buchhalterischen Verlegern beherrschten Zeitungslandschaft. Müller war der Paradiesvogel unter den Raben und Krähen: politisch links bis grün, kulturell aufgeschlossen und sexuell auch noch vom anderen Ufer schockierte er das örtliche Honoratioren-Kartell, als er 1969 die publizistische Macht in der Universitätsstadt übernahm.

Verlegersöhnen ist das Erbe ihres Vaters oft mehr Last als Lust. Bei Christoph Müller war es umgekehrt. Auf diesen Tag hatte er gewartet. Im Kapuzen-Shirt, den Ring im Ohr und das neue Selbstbewusstsein seiner Generation im Leib erschien er auf der Provinzbühne, und was manche noch als Reminiszenz an seine „Berliner Zeit“ als Volontär und Redakteur beim Tagesspiegel ansahen, stellte sich bald als dauerhafte persönliche Ausformung heraus. Aufgeblasene Lokalmatadoren und biedermännische Wichtigtuer waren seiner Abneigung gewiss. Als Monopolist konnte er mit dieser Feindschaft gut leben: Abbestellungen seiner Zeitung kommentierte er siegessicher: „Die kommen alle wieder.“

Mit dem Instinkt eines Leitwolfs sammelte er junge journalistische Talente in seiner Lokalredaktion, deren Zahl bald die einer Großstadtredaktion übertraf. Einige von ihnen finden sich heute im Impressum von Spiegel, Stern oder taz wieder. Angestachelt von der Leidenschaft des Chefs war in Tübingen lange Zeit kein Bienenzüchter und kein Bauspekulant sicher vor den wühlenden Schreiberlingen aus der Uhlandstraße. Und jeden Morgen wunderten sich die Leser zwischen Börstingen und Kirchentellinsfurt, was ihre Heimatzeitung da schon wieder ausgegraben hatte. Der Schrebergarten als die wahre Fundgrube journalistischen Spürsinns, die Marktfrau als Indikator. Weltereignisse standen tags darauf auf Tübingen heruntergerechnet im Blatt. Der Nabel der Welt, da waren sich zumindest in den 80er-Jahren viele sicher, der Nabel der Welt lag hier zwischen Ammer und Neckar.

Highlights für das Ehepaar Jens

Es ist belegt, dass Walter Jens sich sein Tagblatt jeden Morgen um fünf Uhr aus dem Briefkasten holte. Gegen 5.45 schlief er dann zwar wieder ein, doch zum Frühstück lasen sich er und seine Frau Inge die Highlights aus dem „Blättle“ vor. Die „kleine, große Stadt“, in der das Ehepaar Jens vor mehr als 50 Jahren siedelte, weil hier „der Geischt“ wohnt und nicht das Geld, hatte in Müller den Verleger gefunden, der diesem Primat entsprach. Zumindest dachte man das lange Zeit. Müller lotete die Schmerzgrenze seiner Leser mit der Dachlatte aus: Denn obwohl die Tübinger sehr stolz auf ihre Universität sind, bestand doch die Leserschaft vorwiegend aus Handwerkern, Feuerwehrkommandanten und Gütlesbesitzern. Denen am Morgen einen Aufmacher in ihrer Lokalzeitung über die Shakespeare-Inszenierung am Landestheater Tübingen zuzumuten ist entweder wahnsinnig oder genial. Aber weil nun einmal die große Liebe des Herrn Müller dem Theater gehört, hatten auch alle Tübinger gefälligst Anteil daran zu nehmen, ob Hamlet seine Sache gut gemacht hatte. Der wichtigste Mann in der Lokalredaktion war zumindest immer der Theaterkritiker.

Eigentlich wollte der Sohn eines ernsthaften und honorigen Zeitungsverlegers lieber Schauspieler oder Regisseur werden. So aber blieb Müllers Bühne erbschaftsbedingt das Verbreitungsgebiet seiner Zeitung. Hier inszenierte er und besetzte Rollen. Wer Oberbürgermeister, wer Intendant am Theater oder auch nur Kulturamtsleiter werden sollte, Müller und seine Redaktion hatten immer schon einen Vorschlag parat, was nicht selten dazu führte, dass die Empfehlung die sicherste Gewähr dafür bot, nicht gewählt zu werden. Einfluss auf Personalentscheidungen zu nehmen war ihm eine der schönsten Freuden, und so überwog bei ihm auch der Triumph über den Sturz von Herta Däubler-Gmelin als Justizministerin die Hochachtung, die er der Politikerin aus Tübingen ansonsten entgegenbrachte.

Volltreffer Däubler-Gmelin

Ihr Wahlkampfauftritt in einem Hinterzimmer der Stadt im Beisein eines Tagblatt-Journalisten, als sie einen Vergleich zog zwischen der Außenpolitik von George W. Bush und der Adolf Hitlers – mit den bekannten Folgen –, war die letzte Kerbe, die Müller in seinen Colt schnitzte.

Macht macht einsam. An den meisten Abenden im Jahr saß der Verleger allein in seiner Villa „ob der Grafenhalde“ und betrachtete seine Bildersammlung niederländischer Meister. Als Müllers langjähriger Lebenspartner, der Bühnenbildner und Dramaturg Axel Manthey, starb, verlor er zusehends an Bodenhaftung, und aus dem Welt-Müller schaute immer häufiger der Neckar-Müller heraus. Als die Anzeigenflaute dem Monopolblatt nicht mehr die gewohnten Gewinne sicherte, reagierte er wie alle seine Verlegerkollegen und entließ etliche Redakteure – die bis dahin geglaubt hatten, Mitglieder einer großen Familie zu sein. Hatte er nicht immer wieder in den Konferenzen beteuert: „Ihr gehört alle mir“ und sogar angekündigt: Wenn er einmal abtrete, vermache er seinen Verlagsanteil der Redaktion?

So habe er das nie gemeint, sagte er später, als der schwäbische Geiz immer deutlicher durch das Kapuzen-Shirt schimmerte. Zuletzt stritt sich der Multimillionär Müller sogar mit dem Tübinger Kunsthallen-Chef Götz Adriani um den Verkaufserlös von Postkarten seiner niederländischen Sammlung. Es ging um ein paar hundert Euro.

Irgendwann begann ihn sein Provinzdasein zu langweilen. Immer seltener tauchte Müller in der Redaktion auf und fuhr stattdessen zu Premieren nach Berlin, Wien oder New York. Jetzt hat er den Schnitt gemacht und seinen Verlagsanteil verkauft. Das viele Geld will er unter anderem dazu nutzen, in Berlin seine Gemäldesammlung zu präsentieren. Mit einem Abschiedsfest im September wird Müller leise servus sagen. Einladen dazu will er auch „alle meine Feinde“. Ein schönes Schlussbild im letzten Akt.