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Archiv-Artikel

Essen, was abfällt

Wie fühlt sich der Alltag mit 500 Euro im Monat an? Wie verändert das „Leben light“ den Blick auf die Mitmenschen? Und wie gewinnt man den Survival-Kampf im Sozialladen? Auszüge einer Betrachtung von unten

VON MAREN HOMBRECHER

Diskreditiere ich mich, wenn ich es gleich vorwegnehme? Ich bin arbeitslos. […] Ich beziehe jeden Monat um die 500 Euro vom Staat, und das gezwungenermaßen, denn auch ein Arbeitsloser hat ja laufende Kosten zu zahlen, klar. Dazu kommen dann noch um die 90 Euro Wohngeld. Ich hänge also unfreiwillig in dem sozialen Netz rum, das zwar bereits zu faulen begonnen hat, mich aber noch trägt. Deshalb versuche ich auch, es nicht über Gebühr zu belasten. Nur scheinbar hat sich mein Lebensstil-„light“ noch nicht genug meiner neuen Situation angepasst, denn wenn ich von diesem Geld erst einmal meine Ausgaben abgezogen habe, dann stehe ich gleich zu Monatsanfang mit sehr wenigen Euros da, ohne auch nur die allernotwendigsten Extras, wie die Nahrungsaufnahme, miteinkalkuliert zu haben.

Mittlerweile kaufe ich mein Essen im so genannten Sozialladen ein. Ich lebe in Berlin-Friedrichshain; das heißt ja jetzt Friedrichshain/Kreuzberg, denn man hat im Rahmen der Wiedervereinigung die beiden ärmsten Bezirke der Stadt von Osten und von Westen zusammengelegt. Hier wohnen mit 13,5 Prozent aller Bewohner mit Abstand die meisten Sozialhilfeempfänger. Ich habe mich, als ich erstmals von den Zusammenlegungsplänen hörte, gefragt, ob das wirklich Sinn machen könne, denn wo massenweise Arbeitslosigkeit herrsche, da herrsche doch folgerichtig auch ein regerer Andrang auf die Ämter. „Sollen wir jetzt noch länger Schlange stehen?“, hatte ich mich geärgert. Diese Stadtverordneten, die hätten sich wohl gedacht: „Wer schon keine Arbeit hat, hat wenigstens Zeit zu warten.“ Aber da habe ich ihnen Unrecht getan.

Kaviar für Müllschlucker

Es ist jetzt wirklich alles viel besser als vorher. Neulich musste ich erstmals bei meinem neuen Arbeitsamt vorstellig werden und ich kam sofort dran. Das ist mir vorher noch nie passiert. Kann also doch sein, dass es noch Grund zur Hoffnung gibt, dass sich „die da oben“ doch ganz doll Mühe geben, die Umstände für alle Beteiligten zum Besten zu wenden. Man soll ja immer optimistisch bleiben, weil „positive thinking“ schon die halbe Miete sei. […]

Diese Sozialläden sind jedenfalls eine super Erfindung! Hier in Friedrichshain gibt es davon seit Neuestem gleich fünf Stück. Das sind so kleine Geschäfte im Tante-Emma-Format, die von den großen Supermarktketten mit deren fast (oder auch bereits ganz) abgelaufenen Gütern beliefert werden, und manch humanistisch gesonnene Bäckerei gibt dort ihre unverkauften, nur ein wenig angetrockneten Brötchen ab. Alles ist dort wesentlich billiger als in den übrigen Läden. Ich schätze mal im Durchschnitt um die 50 Prozent. Das macht sich in einem so kleinen Geldbeutel wie meinem rasch bemerkbar.

Ich esse jetzt immer, was so an- oder vielmehr abfällt. Hätte ich nie von mir gedacht, dass ich mal so ein Müllschlucker werde. Aber im Grunde esse ich jetzt besser als zuletzt, als der Kühlschrank öfters mal warm blieb, beziehungsweise die Küche kalt. Sicher riecht es im Sozialladen nach Schimmel, weil nicht jedes Element sich noch im verkaufsfähigen Stadium befindet. Aber wer sucht, der findet. Und manchmal sind das eben Luxushäppchen. Die Wohlhabenderen scheinen auch weniger für Essen übrig zu haben und so vergammeln Lachs, Garnelen, Wachteleier, Kaviar beinahe, würde ich sie nicht retten. Nein, ich übertreibe. So paradiesisch geht es in Wahrheit nicht zu im Sozialladen. Und man braucht auch – nur um das eben anzumerken – einen Berechtigungsausweis. Aber immerhin gibt es dort Markenartikel, sonst war ich immer auf die No-Name-Produkte geeicht. Das Restrisiko wegen des Verfallsdatums ist übrigens minimal. Ich hatte bislang erst einmal Pech und verdorbene Ware im Beutel.

Das einzig Dumme am Sozialladen ist, dass ihn mittlerweile schon so viele entdeckt haben. Es kommt zwar noch nicht zu Handgemengen dort, aber es ist doch ein ganz schönes Gedrängel. Früher gingen dort nur ein paar Rentner einkaufen. Aber heute gibt es einen regelrechten Run auf die Bude, nachmittags, wenn zwischen 2 und 3 Uhr die neuen Lieferungen kommen. Wer da den Kürzeren ziehen muss, ist klar: die Humpelnden. Seitdem auch viel jüngeres Volk allmählich die Hemmschwelle überwand und sich hereinwagte in den sozialen Absturz, leicht von außen durchs Glasfenster zu bezeugen, trifft man hier auf Arbeiter, neben brotlosen Akademikern, Künstlern und Filmemachern, die man leicht an ihren schwarzen Hornbrillen erkennt.

Rudelsturm auf die Regale

Irgendwie hat sich die Sache dann rumgesprochen und ist auch über Sprachbarrieren hinweg ins Ohr mancher Ausländer gedrungen. Diesseits der Spree, im ehemaligen Osten, da leben ja nur ziemlich wenige Nichtdeutsche. Aber jenseits, da leben Massen. Kreuzberg heißt im Volksmund ja deshalb Klein-Istanbul. Jedenfalls kommen die Ausländer nun im Sozialladen einkaufen und multiplizieren die frohe Botschaft rasch. Immer mehr kommen her, bald sind es Heerscharen, die die Regale abgrasen. Zugegeben, auch deutsche Frauen sieht man bisweilen mit ganzen Rudeln den Laden invasionsgleich stürmen, Oberhäupter von sozialschwachen Großfamilien, deren Nachwuchs völlig außer Rand und Band durch den kleinen Laden tobt, als hätten sie noch nie zuvor im Leben Süßigkeiten live gesehen. „Oh Mama, Nikoläuse!“ Natürlich vom Vorjahr. Jetzt im Frühjahr haben die hier Saison. Die Kinder stehen mit glänzenden Augen vor der betagten Ware und am Kühlregal greifen sie gerne nach den giftigbunten Götterspeisen, die im Laden für Normalsterbliche einfach niemand haben wollte.

Jedoch, man muss schon zugeben: Im geburtenschwachen Deutschland gilt eine Großfamilie heute eher als Anachronismus, weswegen man sie nun rententechnisch auch bevorzugen will, bevor wir noch aussterben. Nachwuchssorgen haben die meisten ausländischen Familien dagegen kaum. Bei ihnen kann sich das auf engem Raum geballte Zusammenleben noch als beliebteste Existenzform behaupten. Ob aus Xenophobie oder aus echter Präferenz, Ausländer gruppieren sich wesentlich häufiger zur … ich hätte fast Sippe geschrieben. Aber ich weiß gar nicht, ob Sippe nicht ein rassistischer Ausdruck ist. Ich beobachte mich diesbezüglich nämlich im Moment genauer, ob ich im tiefsten Inneren doch das Zeug zu einer Rassistin habe, denn ich habe mich neulich – und zwar zum ersten Mal – bei merkwürdig gereizten Gedankengängen ertappt, die Ausländer betrafen und die in so eine komische Richtung gingen. Das geschah eben im Sozialladen, als ich mich im Stillen doch tatsächlich darüber ärgerte, dass eine junge Ausländerin alles gleich säckeweise in Körbe packte. Allein mindestens 10 Tüten randvoll mit Brötchen!

Toleranz nur im Wohlstand

„Mensch, fahr doch gleich mit ’nem Lieferwagen vor“, dachte ich und stellte mir vor, wie sie und ihre Verwandten, die draußen ja schon warteten, gleich nach Kreuzberg rüberfahren würden, um die hier billig erstandenen Güter zu Normaltarifen auf dem türkischen Frischmarkt oder wo auch immer in den Handel zu bringen. Geschäftstüchtig waren die ja, die Ausländer, so dachte ich pauschal. Gleichzeitig sah ich mir erstaunt beim Denken über die Schulter und wunderte mich, dass ich tatsächlich gehässig genug war, eine gewisse Genugtuung zu empfinden, als die Frau, die sicherlich einige Mäuler mehr zu stopfen hatte als nur die zwei Nervensägen, die ihr bereits kreischend an der Schürze hingen, ein paar der Brotbeutel zurücklegen musste, weil die Kassenfrau dem Masseneinkauf einen Riegel vorschob und verstimmt herumgrummelte. Hätte die wohl eine deutsche Kundin genauso grob und respektlos zurechtgewiesen, fragte ich mich? War die auch tendenziell national gesonnen? Ich war mir nicht sicher, spürte aber, wie ich mich durch diesen Gedanken doch allmählich mit der Ausländerin solidarisieren konnte und das entflohene alte Feindbild Vorurteil sich wieder kleinlaut auf seinen angestammten Platz zurückschob.

Trotzdem hat mich dieser Vorfall bedenklich gestimmt. Toleranz, glaube ich, sprießt besonders in Zeiten des Wohlstands gut. Genauso verhält es sich wohl mit der Großzügigkeit, denn früher hatte ich den Bettlern immer mehr zu geben. Die edle Geste kann sich eben nur leisten, wer es sich wirklich leisten kann. In solchen Zeiten gedeihen auch die noblen Gedanken, dann sinnt man auf Gleichberechtigung, dann etablieren sich Frauen und Behinderte plötzlich per Quote neben dem Mann, Kinder und Tiere dürfen nicht mehr gequält werden und ganz wichtig: Ausländer muss man immer nett behandeln.

Ich bin ja ein Kind der Siebzigerjahre, als in breiten Schichten der Bevölkerung, einer wachsenden Schicht aus Wohlstandsemporkömmlingen, die Toleranz noch Blüten trieb. […] Nein, aber im Ernst, die Ausländer, die stören mich im Grunde gar nicht. Den meisten geht es ja noch viel schlechter als mir, sodass ich zumindest den Versuch unternehmen könnte, mich an dem Gedanken aufzurichten, so wie man es früher mit den Kindern in Afrika tat. Alle Probleme, die man hatte, waren ja dazu in Relation gesetzt nur äußerste Lappalien. Ausländer, so halte ich mir vor Augen, haben hier noch nicht mal Wahlrecht.