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Archiv-Artikel

„Geht nicht weg“, ruft der Alte

„Wenn sie Arafat holen“, sagt Halime aus Jerusalem, „werde ich sie mit meinem Körper aufhalten“

aus Ramallah SUSANNE KNAUL

10.00 Uhr. Die Hälfte des Zimmers im ersten Stock fehlt, ein Geschoss der israelischen Armee hat sie weggebomt. Auf dem Rest, einem provisorischen Balkon, sitzen drei Männer und beobachten das Geschehen auf dem Platz unter sich. Sie gehören zur palästinensischen Eliteeinheit „Force 17“. Nein, Journalisten dürften nicht hochkommen, sagen sie und verweisen auf einen Wohncontainer. Dort sitzt Mohammad, Ende 30, nicht sehr groß, mit freundlichen, übernächtigten Augen und mindestens einem Drei-Tage-Bart. Er trägt eine grüne Uniform ohne Abzeichen und Dienstrang. „Ich bin 24 Stunden am Tag hier“, sagt er, „und das seit drei Jahren.“ Er gehört zur Präsidentengarde, und wie die drei Männer auf dem Balkon hat er die Aufgabe, den alten Palästinenserpräsidenten in seinem von Israel belagerten Amtssitz zu bewachen. Jassir Arafat, sie nennen ihn hier Rais, Präsident, oder Abu Amar, das ist sein Kampfname. Der Bewacher Muhammad teilt Arafats Schicksal. Auch er kann das Gelände nicht verlassen, die Israelis suchen ihn.

Eine drei Meter hohe weiße Betonmauer, zum Teil mit Stacheldraht bewehrt, umgibt die Mukata, Palästinenserpräsident Jassir Arafats Amtsitz oder besser, was davon übrig blieb: Zwei mehrstöckige Gebäude und ein Brückenübergang zu den Büros und Quartieren der Eliteeinheit „Force 17“. Rings herum Ruinen und Schutt. Der hintere Zugang zum Regierungsgelände steht offen. Wer zum Präsidenten will, muss eine zweite Mauer passieren, was durch eine kleine Eisentür möglich ist, wenn der Wachposten es erlaubt.

11.00 Uhr. Vom Kulturministerium her, das eigentlich mehr wie ein Mehrfamilienhaus aussieht, nähert sich eine Gruppe von vielleicht 60 Demonstranten. Noch am Wochenende hielten israelischen Soldaten das oberste Stockwerk des Ministeriums besetzt und demonstrierten Bereitschaft, sollte die Regierung das Kommando zur Entführung Arafats geben. Die Gruppe erreicht den vorderen Eingang zur Mukata, wo sie von zwei Wachleuten unkontrolliert durchgewunken wird. Eine Waffe hereinzuschmuggeln wäre ein Leichtes. Quer über einen Parkplatz, an Sandhaufen, Schutt und einem Berg kaputter Autos vorbei, vor dem eine Gruppe palästinensischer „menschlicher Schutzschilde“ ein kleines Zeltlager errichtet hat, erreichen die Demonstranten den Vorplatz von Arafats Büro. Dort haben schon rund 50 Journalisten auf einem Podest Position bezogen. Quer über den Hof flattern Palästinafähnchen. An einer Mauer hängt das fünf mal drei Meter große Plakat mit dem siegessicher winkenden Arafat. Aus riesigen Lautsprechern dröhnt von Zeit zu Zeit arabische Popmusik. Um das Happening perfekt zu machen, fehlen nur ein Eiscreme und kalte Getränke. Die Möglichkeit, dass die israelische Luftwaffe jederzeit einen Angriff fliegen könnte, scheint niemanden zu irritieren.

„Wenn ich sterbe, wird sich Allah meiner Kinder annehmen“, sagt Amal, Sozialarbeiterin im Salfit-Krankenhaus, das einen Vertreter aus jeder Abteilung geschickt hat, um Solidarität mit dem Rais zu demonstrieren. Der Präsident solle wissen, dass „es keinen anderen für uns gibt. Er hat die Sache angefangen, und er wird sie zu Ende führen.“ Ein Volk, das nicht zu seinem Führer steht, könne sich selbst nicht respektieren. „Arafat ist der Beste“, ruft unterdessen eine Gruppe von Schülern im Sprechchor. Die einzige Ausländerin, die keine Journalistin ist, heißt Jenny McArthur, pensionierte Juradozentin aus London. Sie ist zwar nicht angemeldet, hofft aber dennoch, Arafat sprechen zu können, um ihn zu einer „Klage gegen den Staat Israel wegen Völkermordes“ vor dem Gerichtshof in Den Haag zu bewegen.

Die Kundgebungen sind organisiert. Arafats Fatah-Organisation und die Ministerien entscheiden, wer wann zu erscheinen hat. Immer mehr Gruppen füllen den Platz: Die „Abteilung für Flüchtlingsfragen“ ist vertreten, Dozenten öffentlicher Berufsschulen und noch mehr Krankenhauspersonal, diesmal aus Nablus. Kampfaufrufe unterbrechen die Musik aus den Lautsprechern.

11.45 Uhr. Auf der Treppe zum Eingang des Bürohauses erscheint Arafat. Zu beiden Seiten verdecken dicke Planen Sandsäcke, die nur einen schmalen Spalt lassen. Der 74-Jährige sieht gut gelaunt aus, hält die Finger zum V geformt in die Luft und lässt sie ein wenig im Rhythmus der Musik wippen. 13 Kameras lassen keine seiner Bewegungen undokumentiert. „Unsere Seele und unser Blut geben wir für Arafat“, ruft die Menge. Die Stimme des Alten klingt frisch, als er antwortet: „Nicht für mich, für Palästina, Palästina, Palästina.“ Dann dröhnt wieder Musik, der Präsident schwingt die Hände im Rhythmus. „Ich komme in fünf Minuten wieder“, sagt er. „Geht nicht weg.“

12.00 Uhr. Die Menge löst sich teilweise dennoch auf. Andere bleiben, tanzen Debka, einen arabischen Volkstanz, bei dem sich die Männer im Halbkreis bewegen und an den Schulter festhalten. Der Rhythmus der klatschenden Umstehenden feuert sie an. Mohammad hat sein Büro verlassen und beobachtet das Geschehen. „Die israelischen Drohungen stärken Abu Amar“, sagt er. Sogar Syriens Außenminister habe angerufen. „Das ist seit 20 Jahren das erste Mal.“

12.25 Uhr. Arafat kommt erneut heraus, die Musik wird leiser. Dann spricht Talab A-Sana, ein arabischer Abgeordneter im israelischen Parlament. Er sagt, dass es „ein Volk“ sei, das in Akko, Haifa, Ramle in Israel und Ramallah und Tulkarem im Westjordanland lebe. Aus der Menge dringen Rufe nach „einem Land“, A-Sana und Arafat reagieren darauf nicht. „Der größte Feind des Friedens ist der Besatzer“, sagt A-Sana und fordert den kompletten Rückzug bis zu den Grenzen von 1967. Dann spricht Arafat, zitiert Koranverse und erinnert an den „Frieden der Mutigen“, den Frieden, den er mit Jitzhak Rabin unterzeichnen wollte und preist die „Märtyrer“.

13.00 Uhr. Mohammad geht durch die kleine Eisentür am hinteren Eingang zurück zu seinem Büro im Wohncontainer, wo ein Schreibtisch, ein schmales Bett und ein Fernseher steht, in dem gerade eine Dokumentation über das Massaker von Sabra und Shatilla übertragen wird. Unter den Augen der israelischen Besatzungsarmee hatten christliche Milizen der libanesischen Streitkräfte dort 1982 ein Massaker an den Alten, Frauen und Kindern angerichtet.

Seit drei Jahren hat Mohammad seine Familie nicht gesehen. 1996 schloss er sich der Präsidentengarde an, vorher verbrachte er fünf Jahre im Gefängnis. Aus welchem Grund? „Weil er eine freie Heimat wollte, darum“, wirft ein Kollege ein, der im Büro auf einem Plastikstuhl sitzt. Bei den letzten Bombardierungen der Mukata starben drei seiner Freunde. „Es gibt nur zwei Wege“, sagt er. „Sieg oder Tod. Ich bin ein Kämpfer.“

Von draußen weht eine heiße Windböe Staub und Sand herein. Wenn die Israelis tatsächlich Arafat töten wollten, sagt Mohammads Kollege, würden „viele von uns mit ihm sterben“. Mehrere hundert Männer seien permanent auf dem Gelände stationiert. Es werde ein Desaster geben, gewaltvoller, als alles bisher Dagewesene. Nur die Hamas würde „glücklich sein, ihn loszuwerden“. Für alle anderen „ist Abu Amar wie der Papst für die Christen“.

13.30 Uhr. Die Kameraleute haben ihre Ausrüstung gepackt. Es sind meist Palästinenser, die für ausländische Sender arbeiten. Nur noch zwei Teams sitzen auf dem Podest, gelangweilt, rauchend, abwartend. Aus der Ferne dringt der Lärm der Bulldozer, die hinter dem Amtssitz Schutt wegräumen.

14.45 Uhr. Nur ein paar Sicherheitsleute und Palästinenser, die Arafat mit ihrem Körper verteidigen wollen, lassen sich auch von der schweren Mittagshitze nicht vertreiben. Halime ist eine von ihnen. Die 63-jährige Frau kam vor fünf Tagen aus Jerusalem. Sie hat das Kinn mit Henna rot gefärbt, schiebt ihr knöchellanges Kleid glatt und erklärt: „Wenn sie ihn holen kommen, werde ich sie mit meinem Körper aufhalten.“ Direkt hinter den Zelten werden neue Wasserrohre verlegt. Ein Lkw gießt flüssigen Beton in den Graben, wo ihn Arbeiter mit Spaten und Schippen verteilen.

Aus riesigen Lautsprechern dröhnt Musik. Dass Israel jederzeit angreifen könnte, scheint keinen zu irritieren

15.20 Uhr. „Der Rais schläft“, sagt ein Sicherheitsmann, als Jenny McArthur, die britische Juristin, versucht, zu Arafat vorgelassen zu werden. Sie solle um 17 Uhr wiederkommen. „Ich will, dass Arafat etwas unternimmt, bevor er ermordet wird.“ Nach ihrer Motivation gefragt, erklärt sie, dass sie sich als Britin verantwortlich fühle, schließlich habe „alles mit Balfour begonnen“, dem britischen Außenminister, der 1917 über die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina entschied.

16.00 Uhr. Ein Auto unterbricht die Mittagsruhe. Saib Erikat, ehemals Delegationschef bei den Friedensverhandlungen, lässt sich auf ein Statement ein, wettert gegen die israelische Regierung, die sich weigert, das palästinensische Waffenstillstandsangebot zu akzeptieren, und nimmt dann eilig die Stufen ins Haus. Das Kamerateam von AP bringt sich wieder in Position. Inzwischen ist auch die ARD vertreten. Die nächste Demonstration ist auf 18 Uhr angesetzt. „Prima“, sagt der Kameramann, „das passt gerade noch für die ‚Tagesthemen‘.“

16.50 Uhr. Jenny McArthur streitet mit den Sicherheitsleuten. Sie könne Arafat jetzt nicht treffen, er habe Termine, aber vielleicht später, sagt der Mann. Sie protestiert, holt sich einen Stuhl und setzt sich vor die Stufen.

17.30 Uhr. Mohammad hat sein Büro inzwischen abgeschlossen und macht es sich auf dem Balkon der „Force 17“ gemütlich. Obwohl durch die zerstörte Vorderfront des Hauses genügend Luft dringt, riecht es stark nach Urin. In den Becken steht das Wasser bis zum Rand. Offenbar soll das hinter den Zelten neu verlegte Rohr der Verstopfung ein Ende machen. Aus der zerbombten Vorderfront ragen die Stahlstangen des ehemaligen Baugerüsts bizarr in die Luft. Auf einem aufgespannten Telefonkabel hängen eine einzelne Socke, eine Unterhose und ein Handtuch. Dazwischen wird der Blick frei auf weite, brachliegende Felder und in der Ferne auf die Stadt Bir-Zeit. Mohammad hat in zwei Plastikeimerchen Blumen gepflanzt.

18.00 Uhr. Jenny McArthur macht sich auf den Heimweg. „Ich habe mit dem Büroleiter gesprochen, ich soll einen schriftlichen Antrag stellen.“ Der Platz füllt sich noch einmal, diesmal mit Anhängern Arafats aus dem Flüchtlingslager von Dschenin. Sie halten die gelbe Flagge der Partei hoch und schwören Abu Amar Treue bis in den Tod.