Rare Freuden

Auf dem Boulevard der zerbrochenen Träume: „Der letzte Tanz“, eine Erzählsammlung des amerikanischen Schriftstellers Andre Dubus III

VON ANDREAS MERKEL

„Wie die alten Griechen war ich immer der Meinung gewesen, dass die wichtigsten Ereignisse des Lebens die physischen sind“, schrieb Richard Ford einmal in seinem Roman „Unabhängigkeitstag“ (in dem dann jedoch der Ich-Erzähler wunderbarerweise 600 Seiten lang nichts anderes macht, als seinen Gedanken nachzuhängen). Das ist natürlich eine sehr plotfreundliche Maxime, wie sie „drüben“ jeder Autor in jedem Creative-Writing-Seminar beigebracht bekommen hat. Stellt man sich hier zumindest gerne so vor: Amerika, immer schon ins Handeln (und Scheitern!) verliebt. Right, right?

Auf den ersten Blick bietet auch Andre Dubus III mit seinem erst jetzt auf Deutsch erschienenen Erzählband „Der letzte Tanz“ die handelsübliche US-Erfolgsmischung aus Abenteuer, Automobilität und Abgefucktheit an. Das heißt: massenhaft Typen im, um und aus dem amerikanischen Strafvollzug. Typen, die demnächst in den Knast gehen, Typen, die sich im Knast behaupten müssen, oder Typen, die gerade aus dem Knast kommen – tatsächlich hat Dubus mal als Bewährungshelfer gearbeitet. Dazu dann die passenden Frauen, Ikonen des White Trash: von ihren Vätern und Boyfriends missbraucht, von ihren Männern betrogen und verlassen oder diese selbst betrügend und verlassend.

Zunächst einmal gibt es hier also ein heftiges Hello again auf dem Dirty Boulevard of Broken Dreams, wo an die Existenz des richtigen Lebens umso fester geglaubt werden muss, je knietiefer man im falschen feststeckt. Doch gerade wenn es so richtig hardboiled wird, kommt es in den Geschichten immer wieder zu Stockungen, die sich dem lückenlosen Runtererzähltwerden auf sympathische Weise widersetzen. Die Momente der Ratlosigkeit, mit der jemand plötzlich wie ein Fremder vor dem eigenen Leben steht, erscheinen dann wie die „außerphysischen“ Augenblicke der Erkenntnis. Etwa wenn der neunjährige Dean in der Erzählung „Wölfe im Sumpf“ durch die Wälder streift, mit der Flinte seines Vaters, der die Familie gerade verlassen hat, auf einen Specht schießt und sich dann über den Tod des Vogels wundert. Wenn die etwas zurückgebliebene Lorilee, ein „hässliches Entlein“, die sich scheinbar willenlos ihrem Vater und den Jungs, mit denen sie rumhängt, hingibt, dennoch eine Macht spürt, die sie über diese Männer hat, mit der sie nur absolut nichts anzufangen weiß. Oder wenn der abgebrannte Reilly in der Titelerzählung „Der letzte Tanz“ mit zwei versoffenen Wilderern nachts eine alte Riesenschildkröte fängt, der sie die Innereien herausnehmen, in denen das Herz immer noch leise weiterschlägt: „Reilly sah zu den beiden Männern hoch. Sie standen dicht zusammen und sahen zu ihm hinunter, Billy Waynes Gesicht gelb und bedeckt mit Perlen aus ranzigem Schweiß, die weißen Bartstoppeln in Red Willies Gesicht im Feuerschein beinahe leuchtend, und eine Sekunde lang hatte Reilly das Gefühl, in Gegenwart von zwei sehr weisen, freundlichen Geistern zu sein.“

Es sind keine neuen Geschichten, die dieser Band versammelt, in den USA erschienen sie bereits 1989. Nicht alle sind gelungen, in einigen wird die vorherrschende Hoffnungslosigkeit zu kraftvoll und optimistisch ausgemalt.

Wenn es um die Sehnsucht nach dem „guten Leben“ geht, drohen sie gar in Kitsch auszuarten. Aber immerhin in eine Sorte Kitsch wie aus Notwehr auf eine allzu harte Existenz, in der die einfachen Freuden – ein kühles Bier nach Feierabend, ein Engtanz zu einem Song von Springsteen – rar sind und schwer erarbeitet und am Ende Gold aufwiegen können. So bleibt „Der letzte Tanz“ die eindrucksvolle Talentprobe eines Autors, der in den USA längst und zu Recht ein Star geworden ist. Der Durchbruch gelang Andre Dubus mit dem 2000 auch auf Deutsch erschienenen Roman „Haus aus Sand und Nebel“. In ihm erzählt er mit großer psycholgischer Präzision aus den Perspektiven eines Exil-Iraners und einer Amerikanerin deren Streit um ein Eigenheim, der sich zunehmend zum Existenzkampf ausweitet, zum Clash of Cultures mitten in Kalifornien.

Das Buch wurde in den USA zum Bestseller, die Verfilmung mit Ben Kingsley für mehrere Oscars nominiert (es gab dann einen für das beste Drehbuch). In Deutschland bleibt Andre Dubus III, dessen Vater bereits ein bekannter Short-Story-Autor war, noch zu entdecken. Auf dem einzigen Autorenfoto, das es von ihm zu geben scheint, sieht er aus wie eine Kreuzung aus Detektiv Rockford und Mel Gibson. Der Eindruck könnte nicht irreführender sein.

Andre Dubus III: „Der letzte Tanz“. Erzählungen. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag C. H. Beck, München 2004, 269 Seiten, 19,90 Euro