„Ich suchte keine Identität“

Der in Köln lebende Schriftsteller Hussain Al-Mozany besuchte nach 25 Jahren wieder seine alte Heimat – den Irak. Mit Happyend?

INTERVIEW MIA RABEN

Hussain Al-Mozany, 1954 im südirakischen Amarah geboren, lebt seit 1980 in der Bundesrepublik. Sein erstes Heimatland kennt er gut; erst mit 24 Jahren ging er in den Libanon, wo er als Journalist arbeitete. In Münster studierte er schließlich Arabistik, Islamwissenschaft, Germanistik und Publizistik. Er hat unter anderem Grass, Bachmann und Benn ins Arabische übersetzt sowie zahlreiche Erzählungen und Romane auf Arabisch geschrieben. Sein Roman „Mansur oder Der Duft des Abendlandes“ erschien 2002 im Leipziger Reclam-Verlag. Al-Mozany lebt mit seiner Frau, seiner Tochter und seinem Sohn in Köln.

taz.mag: Herr Al-Mozany, wie geht es Ihnen?

Hussain Al-Mozany: Ganz gut, danke.

Sie haben neulich Ihre alte Heimat besucht. Wie ist Ihnen das gelungen?

Erst mal muss man von Köln mit dem ICE nach Frankfurt fahren. Dann fliegt man direkt nach Jordanien. Das dauert rund fünf Stunden. Von dort nach Bagdad wird es dann völlig chaotisch.

Wieso?

Weil man nach Bagdad nur über den Landweg kommt. Es ist sehr schwer, einen Fahrer zu finden, dem man vertrauen kann. Ich hatte Glück und traf einen Iraker. Die Strecke von Amman nach Bagdad ist tausend Kilometer lang und sehr gefährlich.

Wird an der jordanisch-irakischen Grenze stark kontrolliert?

Nicht einmal auf dem Hinweg. Aber auf dem Rückweg war es der reinste Horror: Ich wurde sechsmal durchsucht, stundenlang festgehalten, es war schrecklich. Viele Jordanier schimpfen die Iraker Verräter, weil wir mit den Amerikanern zusammenarbeiten. Dabei hat die jordanische Regierung selbst die besten Beziehungen zu den USA und zu Israel.

Das klingt, als ob Sie nie wieder durch Jordanien reisen werden.

Ganz genau. Bevor der Flughafen in Bagdad nicht endlich funktioniert, reise ich nicht mehr dorthin.

Hat Sie etwas erfreut, als Sie Ihr Land nach 25 Jahren wiedersahen?

Eigentlich nur, dass die Iraker wieder ihre Meinung sagen dürfen. Ansonsten gibt es nichts Fröhliches in diesem Land. Die Besatzung hat ein hässliches Gesicht. Die Regierung ist korrupt. Die Menschen sind verwahrlost. Sie werden bombardiert, umgebracht – und niemand kümmert sich.

Was genau hat Sie bedrückt?

Ach, sehr vieles. Meine Familie lebt in Sadr City. Sie ist politisch neutral, aber die Anhänger von Rebellenführer Muktada al-Sadr stacheln die Leute an. Außerdem ist meine Familie durch die Amerikaner gefährdet. Ich bin sehr besorgt. Wenn ich könnte, würde ich sie evakuieren.

Bagdad vor 25 Jahren – was war das für eine Stadt, die Sie verließen?

Bagdad war eine blühende, offene Stadt. Es gab trotz der Diktatur unabhängige Theater und verschiedene Kulturzentren. Zum Beispiel die Abu-Nuwas-Straße, die am Tigris entlangführt. Als Kind verkaufte ich dort Lotterielose. Die Straße war voll von Gasthäusern, Kneipen und Cafés für junge Leute.

Und heute?

Heute liegt die Straße in Trümmern. In der Stadt sind die alten Denkmäler verfallen. Damit ist ein Stück Kultur verloren gegangen. Auch der Goldmarkt und der Stoffmarkt verschwanden.

Betreffen die Verluste das ganz Stadtbild?

Mit Saddam entstand eine völlig neue Architektur. Er hat die Stadt mit seinen martialischen Statuen wirklich hässlich gemacht, regelrecht vergewaltigt. Überall standen Märtyrerdenkmale, zum Beispiel eine wahnwitzig riesige Hand von Saddam, die ein Schwert hält. Darunter hing ein Netz mit 2.500 Helmen von gefallenen persischen Soldaten, um seinen Sieg gegen Iran zu manifestieren. Er hat ganze Viertel beseitigt, um Platz für seine Plattenbauten zu schaffen.

Wie war es für Sie, Bagdad nach so langer Zeit erstmals wiederzusehen?

Ein gewaltiger Schock. Dieses Elend. Die meisten Dinge, an die ich mich erinnern konnte, waren einfach weg. Das kollektive Gedächtnis eines ganzen Volkes war damit erloschen.

Was für ein Volk fanden Sie vor?

Ich hatte schlimme Begegnungen und Empfindungen. Ich war wirklich tief betroffen, weil ich so viele Menschen gesprochen habe, die keine Aussicht auf ein besseres Leben haben. Sie haben alles verloren. Verwandte und Freunde wurden einfach hingerichtet oder kamen in den Kriegen ums Leben.

Hatten Sie das Gefühl, dass jetzt, da Saddam weg ist, eine Art Aufbruchsstimmung herrscht?

In Sadr City, dem Armenviertel, wo viele meiner Verwandten leben, wollen die meisten einfach nur überleben. Sehr viele sind arbeitslos und wütend, weil die Amerikaner ihre Versprechen nicht gehalten haben. Weder Stabilität noch Arbeit haben sie den Irakern gebracht. Hinzu kommt, dass es kein Gefühl der gemeinsamen Verantwortung gibt. Viele haben geplündert, um sich kurzfristig zu bereichern.

Wodurch ist das Gemeinschaftsgefühl verloren gegangen?

Jahrzehntelang wurden die Leute bis zum Umfallen überflutet mit Schlagwörtern wie „Patriotismus“, „Panarabismus“, „Saddam Hussein, der große Führer“. Die Menschen sind dieser Dinge überdrüssig, sie haben jetzt keinen Sinn mehr für Heimat, weil Saddam Hussein alles personifiziert hat. Jetzt denken sie an das eigene Überleben.

Was denken die jungen Leute in Sadr City?

Sie sind frustriert, weil sie weder Arbeit noch Sicherheit haben. Neulich habe ich erfahren, dass ein Cousin von mir, gerade mal 25 Jahre alt, erschossen wurde. Er war Anhänger von Muktada al-Sadrs Armee und geriet in die Schusslinie der Amerikaner. Ich habe ihn noch gesehen, als ich da war. Der ganze Stamm ist jetzt antiamerikanisch eingestellt.

Wie viele Mitglieder hat ein Stamm?

Mindestens fünfhundert und bis zu zehntausend Mitglieder. Alle in seinem Stamm sind jetzt bereit, das Leben im Kampf gegen die Amerikaner zu opfern. Ich habe mit seinem Bruder gesprochen. Er sagte mir: „Wenn ich eine amerikanische Patrouille sehe, möchte ich sie gleich angreifen.“

Wie geht es den Frauen in Sadr City?

Auch sehr schlecht. Sie lebten schon immer in Abhängigkeit von ihren Männern. Nur wenige arbeiten als Lehrerinnen außer Haus. Aber im Zuge der Islamisierung der Gesellschaft werden es immer weniger.

Was will die Übergangsregierung dagegen tun?

Es gibt Überlegungen, die Gehälter zu erhöhen, um Frauen zur Arbeit zu motivieren. In vielen Ministerien wollen sie eine Quote einführen. Im Parlament, das nächstes Jahr gewählt wird, sollen mindestens 25 Prozent der Abgeordneten Frauen sein.

Wie schätzen Sie die neue Regierung ein?

Durch die gezielte Auswahl der Briten und Amerikaner sind jetzt nur die Kräfte an die Macht gelangt, die schon vorher mit ihnen zusammengearbeitet haben. Jeder Exiliraker, der in Deutschland, Frankreich oder einem der Länder, die gegen den Krieg waren, lebt, wird ignoriert und nicht angesprochen. Hinzu kommt, dass die Korruption nie da gewesene Ausmaße annimmt.

Aber Korruption ist doch im arabischen Raum geläufig.

Ja, gewiss, aber was jetzt im Irak los ist, ist noch schlimmer. Das geht durch die ganze gesellschaftliche Hierarchie durch: vom Streifenpolizisten bis zum Staatspräsidenten.

Der neue Präsident, Ghasi al-Jawar, ist korrupt?

Das weiß ich nicht. Er ist jedenfalls keine Wahl der Iraker. Der heutige Präsident war der Wunschkandidat von Saudi-Arabien. Genauso wenig sitzt Ministerpräsident Ijad Allawi auf Wunsch der Iraker in der Übergangsregierung; er war der Kandidat von Jordanien.

Aber das heißt ja noch nicht, dass die beiden korrupt sind.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Einmal waren vierhundert Stellen im Gesundheitsministerium zu vergeben. Jeder, der eine Stelle haben wollte, musste umgerechnet 250 Dollar bezahlen, damit er sie überhaupt bekommt.

Könnten Sie nicht versuchen, den Irak mitzugestalten?

Aber ich bin kein Politiker. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich bin ein Schriftsteller, ein Erzähler. Meine Aufgabe liegt woanders. Und mittlerweile bin ich halbwegs ein deutscher Schriftsteller.

Fühlen Sie sich in dieser deutschen Heimat so richtig zu Hause?

Nein, ich fühle mich nicht zu Hause, aber das ist mein Schicksal. Ich muss das so hinnehmen. Ich bin kein bequemer Mensch. Ich werde das akzeptieren und das Beste daraus machen.

Sehnen Sie sich nach einem ungebrochenen Zugehörigkeitsgefühl?

Nein, das tue ich nicht. Das habe ich nicht einmal im Irak zu früheren Zeiten gehabt. Ich möchte die Dinge gern reflektieren und bearbeiten, bevor ich zu einer bestimmten Überzeugung komme. Ich bin kein arabischer Nationalist. Ich bin auch kein überzeugter Deutscher. Ich schreibe fast nur auf Deutsch. Für mich ist das offen. Ich habe die Sprache selbst gewählt. Das Drumherum interessiert mich nicht.

Wie meinen Sie das: dass es Sie nicht interessiert?

Zum Beispiel wie die Deutschen über mich denken. Das müssen sie selbst beantworten. Meine subjektiven Gefühle sind einfach so, dass ich mich inzwischen in der Lage sehe, auf Deutsch zu schreiben, etwas zu erzählen. Ob das mit Integration oder Heimat zu tun hat, das ist nicht die Frage.

Sie wollen dem Ganzen offenbar keinen Namen geben.

Wissen Sie, ich strebe nicht nach einer Identität. Ich suchte auch keine Identität, und wenn ich überhaupt eine Identität suche, dann suche ich sie nicht bei einer Nation – auch nicht im Irak.

Wo dann?

Wenn schon, dann vielleicht in der Kultur einer Nation. Und die ist nicht unbedingt nationalistisch, sondern eher multikulturell, obwohl der Begriff vielleicht nicht so beliebt ist. Ich bin gern Deutscher im Sinne der deutschsprachigen Literatur. Alles in einer Linie von Rilke, Kafka, Hofmannsthal bis Musil und so weiter. Dieses Stück Identität mag ich sehr gern. Aber ich bin kein Deutscher im Sinne von Siemens, Mercedes und Hoechst.

Oder Karneval?

Nein! Auf gar keinen Fall. Es war sicherlich auch weder die deutsche Luft noch die deutsche Küche, die mich hier geprägt haben. Ich habe vor sechs Jahren in der deutschen Sprache meine persönliche Herausforderung gesucht.

War das für Sie mehr als ein Sprachwechsel?

Wenn man schon so lang in Deutschland lebt, dann fragt man sich irgendwann: Was suche ich eigentlich hier? Deutschland ist für mich keine Kulisse mehr. Ich muss eine Entscheidung treffen. Wenn ich auf Arabisch schreibe, dann kann ich auch ruhig nach Ägypten gehen. Ich habe dort gelebt.

Warum sind Sie nicht dort geblieben?

Einige ägyptische Schriftsteller haben versucht, mich zu ermutigen, da zu bleiben. „Du bist einer von uns, bleib doch hier“, haben sie gesagt. Aber ich wollte einen anderen Beitrag leisten. Ich möchte mich gern selbst entwickeln, indem ich in einer anderen Sprache schreibe, indem ich mich selbst herausfordere. Ich versuche so, Brücken zu schlagen. Meine Kinder werden das wohl besser können als ich, aber ich kann die ersten Bausteine legen für einen besseren Dialog.

Was mögen Sie an den Deutschen?

Ich mag sehr, dass die Deutschen viel lesen. Sie fühlen sich dem Buch mehr verpflichtet als vielleicht ein Araber. Wir haben hier eine echte Lesekultur.

Würden Sie, beispielsweise, als Leiter des Goethe-Instituts zurück nach Bagdad gehen?

So etwas wird mir natürlich nicht angeboten, aber ich kann mir überall vorstellen zu leben. Das ist nicht das Problem. Ich muss aber auch mit meiner Familie darüber sprechen, ob sie die Verhältnisse dort vertragen könnte. Ich will nicht unbedingt bequem leben. Darum geht es mir überhaupt nicht.

Was ist Ihnen wichtig?

Ich träume von einer Stadt, wo Kultur, Literatur und Musik einen großen Bestandteil ausmachen. Ich träume seit langem davon, einen Beitrag zum Wiederaufbau des Iraks zu leisten, aber die Bedingungen sind bisher nicht gegeben. Es werden gezielt Intellektuelle niedergestreckt. Ein sehr bekannter irakischer Filmkritiker wurde zusammen mit seinem Sohn vor zwei Monaten erschossen. Auch wurde kürzlich eine Professorin aus Mossul zusammen mit ihrem Mann hingerichtet. Niemand weiß, wer die Täter sind.

In Ihrem Reisebericht schreiben Sie: „Ich brauche nur noch die Schaufel, um die Leiche der Vergangenheit zu verscharren.“ Ist es dieses Gefühl, das Sie im Irak mit sich herumtragen?

Als Iraker bin ich natürlich gescheitert in meiner Reise. Weder meine Familie noch das Land fand ich in einem guten Zustand vor. Aber wenn ich meine Reise als Beobachter anschaue, also in einer völlig anderen Dimension, dann darf und will ich die Hoffnung nicht aufgeben. Das ist das Allerletzte, was mir noch übrig bleibt.

MIA RABEN, Jahrgang 1977, studierte in Amsterdam Politik und Europarecht. Sie lebt als freie Autorin in Berlin und Warschau. Hussain Al-Mozany traf sie in seiner Wohnung in Köln