Mit der Zerrissenheit eines Fremden

Der Dichter und Forscher Adelbert von Chamisso wäre vielen unbekannt, gäbe es nicht einen nach ihm benannten Platz in Kreuzberg. Jetzt widmet das Kreuzberg Museum dem deutsch-französischen Weltreisenden und Botaniker eine Ausstellung

VON PHILIPP GESSLER

Mit der Aussprache des Namens fängt es an. Wie wird er jetzt ausgesprochen, der Dichter mit dem seltsamen Namen Chamisso: „Schamisso“ oder „Kamisso“?

Die Unsicherheit darüber ist bezeichnend. Der Porzellanmaler, Leutnant, Weltreisende, Botaniker und Schriftsteller Adelbert von Chamisso (1781–1838) ist uns heute fremd. Und gäbe es nicht den schönen Chamissoplatz in Kreuzberg, wäre er wohl vielen unbekannt. Doch gerade dies, die Fremdheit und das Unbekannte, sind in Chamissos Leben Motive, die ihn für uns (wieder) interessant machen. Deshalb öffnet heute im Kreuzberg Museum die Ausstellung „Mit den Augen des Fremden“, die das Leben dieses hochbegabten Gelehrten beleuchtet, den man noch Anfang des 19. Jahrhunderts bald hinter Schiller und Goethe als großen Literaten feierte. Aber das ist vergessen. Uns Heutige reizt etwas anderes an Chamisso: sein Leben in der Fremde, das passt zu Kreuzberg.

Adelbert von Chamisso wird am 31. Januar 1781 als Louis Charles Adelaïde de Chamissot de Boncourt auf einem Schloss nahe dem lothringischen Dorf Boncourt geboren. Das Leben in der hochadligen Familie ist nicht üppig, aber kein Vergleich mit dem, was folgt, als die Französische Revolution 1790 nach Lothringen schwappt: Die neunköpfige Familie Chamissot flieht aus Frankreich und muss jahrelang mit knappsten Mitteln in Mittel- und Osteuropa umherirren, ehe sie in Preußen Zuflucht findet – als „Asylbewerber aus Frankreich“ wird Adelbert noch Jahre später beschrieben.

Im Mai 1796 siedelt die Familie nach Berlin über, weil hier ältere Brüder Chamissos eine Anstellung gefunden haben. Der spätere Dichter muss sich als Blumenverkäufer durchschlagen, beginnt schließlich eine Lehre bei der KPM, ehe er als Page in den Haushalt der Königin Friederike Luise aufgenommen wird. Er wird mit 15 als Katholik auf das protestantische „Französische Gymnasium“ aufgenommen, die erste regelmäßige Schulbildung, die er erhält.

Gemäß der Familientradition wird Chamisso mit 17 Soldat. Aber diese Tätigkeit (Dienstort: Wache am Brandenburger Tor) ödet ihn an: „Dieser Beruf verdorrt den Geist und tötet das Herz“, klagt er. Wichtiger sind ihm die literarischen Salons der jüdischen Familien Herz, Cohen und Levin, wo er einen Freundeskreis junger Dichter findet. Chamisso aber ist insgesamt unglücklich und ziellos: „Ich möchte mit Fäusten mich schlagen! Ein Kerl mit 24 Jahren und nichts gethan, nichts genossen, nichts erlitten, nichts geworden, nichts erworben, nichts, rein nichts, in dieser erbärmlichen, erbärmlichen Welt!“

Selbst der Krieg gegen seine frühere Heimat Frankreich, dem beizuwohnen er sich durchringt, endet für ihn als Farce: 1806 wird die Festung, die er mit anderen verteidigen soll, kampflos übergeben. Chamisso quittiert den Dienst. Nach Napoleons Sieg verbringt er einige Zeit in Frankreich, aber das Gefühl von Fremdheit und Ziellosigkeit hält an: „Ich bin ein Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich, Katholik bei den Protestanten, Protestant bei den Katholiken, Jakobiner bei den Aristokraten und bei den Demokraten ein Adeliger“, beschreibt er sich, „ich bin nirgends am Platze, ich bin überall fremd.“

Mit 30 Jahren endlich findet der langhaarige Romantiker seine Bestimmung: Er schreibt sich ein in die frisch gegründete Universität von Berlin, studiert dort die Naturwissenschaften, die sich noch nicht sehr ausdifferenziert haben. Als 1813 Napoleon erneut Europa bedroht, steht Chamisso als Leutnant der preußischen Armee nicht mehr zur Verfügung. Stattdessen schreibt er, eigentlich als Unterhaltung für einen Freund gedacht, die Erzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ über einen Taugenichts und Pechvogel, der dem Teufel seinen Schatten verkauft und daraufhin zwar sehr reich, aber ebenso unglücklich wird, weil die Menschen ihn nun meiden. Die Romanfigur des „Mannes ohne Schatten“ wird in ganz Europa populär. Doch erst der Entschluss, als Wissenschaftler an der Forschungsexpedition eines russischen Schiffes, der Brigg „Rurik“, teilzunehmen, bringt die eigentliche Wende in seinem Leben.

Diese drei Jahre dauernde Reise rund um die Welt von 1815 bis 1818 ist der Schwerpunkt der Ausstellung im Kreuzberg Museum – und die entscheidende Erfahrung im Leben Chamissos. Obwohl häufig seekrank, übersteht er tausende Seemeilen. Es geht von Europa an der Südspitze Südamerikas vorbei bis nach Kalifornien und Alaska. Von dort wieder südlich durch den Pazifik über Indonesien und an der Südspitze Afrikas vorbei schließlich zurück auf den Alten Kontinent.

Während dieser langen Fahrt sammelt Chamisso als Botaniker, Zoologe und Ethnologe Unmengen von Fakten und Fundstücken. Vor allem seine Notizen von der Begegnung mit den fremden Südseevölkern zeigen ihn als vorurteilsfreien Forscher, fern jeder europäisch-zivilisatorischen Arroganz. Im Gegenteil: Angelehnt an Rousseaus Ideen vom „edlen Wilden“, kritisiert er die Zerstörung der Lebensweisen und Charaktere der fremden Völker durch den Kontakt mit der „Zivilisation“. Er geißelt die Unterdrückung und Ausbeutung der Fremden. Für sich spricht die Freundschaft, die sich im Laufe der Reise mit Kadu, einem spontan mitreisenden Einwohner der Ratak-Inselkette, entwickelt. Chamisso nennt den dunkelhäutigen Insulaner mit den lang gezogenen Ohrläppchen einen „der schönsten Charaktere, den ich im Leben angetroffen habe, einer der Menschen, den ich am meisten geliebt“. Der Weltreisende nimmt die fremden Zivilisationen, die Europäern primitiv erscheinen, ernst. Bezeichnend etwa ist, dass er noch in späten Jahren ein Wörterbuch der hawaiischen Sprache erstellt.

Chamisso veröffentlicht seine Reiseerinnerungen nach seiner Rückkehr und wird in Berlin schnell überall herumgereicht. Er wird zum Ehrendoktor der Universität ernannt und findet eine Anstellung am Botanischen Garten und Königlichen Herbarium. Mit seiner Frau Antonie zieht er in die Friedrichstraße 235, sieben Kinder werden dem Paar geboren. Das so schiefe Leben glückt nun offenbar in jeglicher Hinsicht: Seine Gedichte werden mit viel Erfolg veröffentlicht. „Was man sich in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle; ich glaube fast, ich sei ein Dichter Deutschlands“, bemerkt er. Oder, etwas ironischer: „Zu Geburtstags-, Paten-, Christ- und Brautgeschenken werden in Deutschland beiläufig jährlich 1.000 Uhland und 500 Chamisso gebraucht.“

Der „deutsche Dichter“ wehrt sich öffentlich gegen die Restauration und die Zensur, die in den deutschen Staaten Einzug hält. Er fördert junge, linke Dichter wie Heine oder Freiligrath. 1831 erscheint eine Gesamtausgabe seiner Gedichte. Aber schon wenige Jahre später, nach dem frühen Tod seiner Frau, hat auch er keine Kraft mehr. Am 21. August 1838 stirbt Chamisso. Er wird auf dem Friedhof der Jerusalems- und Neuen Kirchgemeinde am Halleschen Tor neben seiner Gemahlin beerdigt – das Grab ist noch heute zu besichtigen.

Die Ausstellung im Kreuzberg Museum kann dieses reiche Leben natürlich nur in Ansätzen beschreiben – das leistet schon eher der schön gestaltete Ausstellungsband, der dort zu erwerben ist. Die Schau im Museum aber kann Neugier darauf wecken, einen Menschen (wieder) zu entdecken, der in seiner Offenheit und Intellektualität, Schaffenskraft und Zerrissenheit noch heute fasziniert. „Ich meinerseits“, schrieb Chamisso, „bin bei jedem neuen Kapitel meines Lebens, das ich schlecht und recht, so gut es gehen will, ablebe, bescheidentlich darauf gefaßt, daß es mir erst am Ende die Weisheit bringen werde, deren ich gleich zu Anfang bedurft hätte, und daß ich auf meinem Sterbekissen die versäumte Weisheit meines Lebens finden werde.“

Ach ja, wie spricht man „Chamisso“ nun aus? Die Ausstellungsmacherin Ellen Röhner erzählt: 80 Prozent der mitarbeitenden Experten sagten „Schamisso“, 20 Prozent „Kamisso“. Chamisso ist nicht zu fassen.

Ausstellung im Kreuzberg Museum, Adalbertstr. 95a: „Mit den Augen des Fremden. Adelbert von Chamisso – Dichter, Naturwissenschaftler, Weltreisender“. Noch bis zum 3. 4. 2005, Mi.–So., 12–18 Uhr. Eintritt frei