Hüllen runter, Distanz rauf

Auch unter Nackten geht es letzten Endes immer um Eroberungen und Territorialkämpfe: Ernst Augustins Roman „Die Schule der Nackten“ ist zugleich genitale Freakshow, Verhaltensforschung und eine Satire auf Psychogruppen und ihre Lächerlichkeit

Wenn man schöne Frauen näher kennen lernt, kann das kompliziert werden

von JÖRG MAGENAU

Ach wenn es doch so wäre. Wenn man doch tatsächlich mit der Kleidung auch gleich alle Bindungen, alle erworbenen Eigenschaften, den Beruf, den Namen und die Vergangenheit ablegen könnte. Es wäre denkbar, dass die Experimente der Nacktheit dann einen anderen, überraschenderen Ausgang nähmen. So aber, da die Menschen zwar die äußeren Hüllen fallen lassen, sich ansonsten aber weiter als dieselben alten Spießer offenbaren, die sie auch im zivilen Leben sind, ist das Ergebnis einigermaßen erwartbar. Ort des Geschehens ist eine Münchner FKK-Badeanstalt, die Ernst Augustin, Autor des Jahrgangs 1927, im Zivilberuf Neurologe und Psychiater, einen Sommer lang aufgesucht hat, um mit blankem Hintern in der Sonne zu liegen und dabei seine soziologischen Studien zu treiben. Das Resultat, „Die Schule der Nackten“, ist bereits sein neunter Roman seit dem Debüt im Jahr 1962. Kritikerlob hat der Münchner Autor seither reichlich erhalten und blieb doch immer ein Außenseiter im Literaturbetrieb ohne großen Publikumserfolg.

Der Held und Ich-Erzähler seines neuen Romans heißt Alexander – zum Zeichen dafür, dass es auch unter Nackten um Eroberungen und Territorialkämpfe geht. Er ist ein älterer Herr, Althistoriker mit dem Spezialgebiet vorderasiatische Frühkulturen, der seinen Forschungsgegenstand vorübergehend gewechselt hat. Im FKK-Bad beobachtet er, wie schon früh am Morgen die Handtücher ausgebreitet werden, um damit die Plätze an der Sonne für sich zu reklamieren. Er wundert sich über die alten Damen, die mit weißer, vielfach gefältelter Haut im Schatten sitzen: nicht unbedingt sexy, aber doch bemerkenswert.

Vor allem aber betrachtet er versonnen und durchaus wortmächtig Form, Farbe und Lage der Genitalien, die ihn umgeben. Die Männer, die da „in Drohhaltung, gespreizt ausgespreitet und bis zum Anschlag aufgeklappt“ bereit liegen, sind entschlossen, was sie besitzen „möglichst rot und roh“ vorzuführen. „Ungeheure Prügel“ sind da zu bestaunen, „fürchterliche Hämmer“ und niedliche „Gießkännchen“, kurze und krumme Schwänze, die langen welken, die hängenden und die bedrohlichen mit den dicken Adersträngen. Mit gleicher Sorgfalt wendet er sich sodann den weiblichen Geschlechtsteilen zu und entdeckt beängstigende Riesenvaginen mit „Schamlippen wie Blasebälgen“ kaum einen Meter von seinem Gesicht entfernt. Nun ja.

Es ist schon eigenartig, wenn man Menschen in einer Perspektive begegnet, die zuerst den Blick zwischen die Beine und dann erst den ins Gesicht erlaubt. Nacktheit nimmt damit eine andere Bedeutung an als einst zwischen Adam und Eva. Es scheint so, als ob die moderne Form der Hüllenlosigkeit des Leibes die Distanz erhöht und die Annäherung erschwert, während doch bei Adam und Eva das Leben erst mit der Bekleidung kompliziert geworden ist. Dies ist eine merkwürdige, dialektische Wendung der Dinge. Paradiesisch ist die Nacktbaderegion jedenfalls nicht. So einfach lässt sich die Unschuld nicht mehr herbeizwingen. Die genitale Freakshow und die Verhaltensforschung füllen knapp die erste Hälfte des Buches. Sie hätten ein reizvolles Sommer-Feuilleton ergeben, ein Roman aber will sich nicht so recht entwickeln. Augustin greift deshalb auf bewährte Ingredienzen zurück, um so etwas wie Handlung in die schläfrige Atmosphäre zu bringen. Er lässt eine rundhüftige Frau mit Namen Juliane als Göttin der Schönheit dem Becken entsteigen. Alexander verfällt ihr sofort, und es gelingt ihm, sich mit ihr zu verabreden. Doch anstatt der ersehnten Liebeserfüllung näher zu kommen, gerät er in ihrer Wohnung in einen seltsamen Tantra-Kult. Die Angebetete nimmt mit einem fremden Mann in der Badewanne Platz und produziert verstörende Atemgeräusche. Schwer zu ertragen für einen Verliebten. Merke: Wenn man Frauen, die zunächst nichts als schön sind, näher kennen lernt, kann das zu Komplikationen führen.

Alexander ist ein wenig sympathischer, angeberischer und übermäßig geschwätziger Held. Mangelnde Kampfeslust und Tapferkeit kann man ihm jedoch nicht vorwerfen. Er besucht zusammen mit Juliane eine Tantra- Fortbildungswoche bei einem bayerisch sprechenden Yogi-Meister, der zugleich sein Nebenbuhler ist. Die Satire auf Psychogruppen und ihre Lächerlichkeit ist eine Spezialität Augustins, die er bereits in seinem Roman „Eastend“ aus dem Jahr 1982 erprobte, dort allerdings gründlicher, boshafter und viel witziger.

In der „Schule der Nackten“ macht er es sich ein bisschen zu einfach. Es ist nun wirklich nicht schwer, sich über Menschen lustig zu machen, die sich in einer Scheune im bayerischen Umland ausziehen, um sich gegenseitig die Hand auf den Bauch zu legen und über die Schenkel zu streicheln. Eigentlich müsste das eine traurige Geschichte sein.

Ernst Augustin: „Die Schule der Nackten“. C. H. Beck Verlag, München 2003, 256 Seiten, 17,90 €