: „Ich bin Jurist und unpathetisch“
Gestern wäre Elisabeth Selbert, die „Mutter des Grundgesetzes“,107 Jahre alt geworden. Sie kämpfte 1948 für den Satz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Das Kasseler Archiv der deutschen Frauenbewegung öffnete gestern den Nachlass
aus Kassel HEIDE PLATEN
Die klare, unprätentiöse Stimme einer älteren Frau machte Elisabeth Selbert gestern, an ihrem 107. Geburtstag, in einem hellen Hinterhofhaus in Kassel noch einmal lebendig. Die Fotos auch, eine resolute Person, dauergewellt in schlichten, strengen Kostümjacken. „Die hat sie geliebt“, sagte Schwiegertochter Ruth Selbert (79) bei einer Pressekonferenz des Archivs der deutschen Frauenbewegung. Das Archiv öffnete erstmals den kompletten Nachlass der hessischen Landtagsabgeordneten, die als „Mutter des Grundgesetzes“ in die Nachkriegsgeschichte einging.
Die Familie hatte den Nachlass vor drei Jahren an die Wissenschaftlerinnen übergeben. Frauen verdanken Selbert den 1949 in Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes festgeschriebenen Satz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Für ihn stritt sie 1948 mit einer bis dahin beispiellosen Öffentlichkeitskampagne. Zehntausende Frauen unterstützten die Forderung waschkörbeweise postalisch. Allein 60.000 Metallarbeiterinnen schrieben an den Parlamentarischen Rat.
Elisabeth Selbert, erinnert sich Enkel Axel Selbert, „war kein Kumpeltyp“, sondern sie wahrte Distanz. Auf den Fotos des Nachlasses blickt sie ernst in die Kamera: „Öffentliches Auftreten war Pflicht für sie, keine Selbstdarstellung.“ Die Großmutter war eine für ihre Zeit ungewöhnliche Selfmade-Frau. Sie wird 1896 in Kassel geboren und besucht eine Mädchenschule. Höhere Schulabschlüsse sind Frauen verwehrt. Der Vater, ein einfacher Gefangenenaufseher, fördert seine Tochter. Sie muss ihren Wunsch, Lehrerin zu werden, aber aus Geldmangel aufgeben, liest viel, lernt Fremdsprachen, arbeitet als Auslandskorrespondentin und im Telegrafendienst der Post. Sie heiratet den SPD-Kommunalpolitiker Adam Selbert. Sie engagiert sich in der SPD, holt das Abitur nach und studiert Jura.
Ihre Zulassung als Rechtsanwältin erhält sie 1934. Frauen werden vom Justizdienst ausgeschlossen. Während des Nationalsozialismus ernährt sie mit ihrer Kanzlei Ehemann und zwei Söhne mit der Übernahme kleiner Fälle. Die Familie Selbert versucht, den Nationalsozialismus unauffällig zu überleben.
Die US-amerikanische Besatzungsmacht holt Selbert 1948 in den Parlamentarischen Rat, 61 Männer und 4 Frauen. Sie sollen den rechtlichen Grundstein der neuen Bundesrepublik erarbeiten. Selbert, die sich zeit ihres Lebens nicht als Frauenrechtlerin, wohl aber als Kämpferin gegen Ungerechtigkeit verstanden hatte, formuliert den umstrittenen Paragrafen, der in erster Lesung auch mit den Stimmen ihrer drei Kolleginnen abgelehnt wird. Die Gegner wenden ein, es gebe sonst „Chaos“, denn das ganze Familienrecht müsse umgekrempelt werden. Bis dahin war es schließlich Recht, dass Männer den Wohnort der Frau bestimmten und den Arbeitsplatz ihrer Ehefrau kündigen durften. Nur als Staatsbürgerinnen durften Frauen wählen. Dieser Unterschied sollte festgeschrieben bleiben. Erst die Protestkampagne brachte die Wende. Selbert legte außerdem den Artikel 117 vor, einen Übergangsparagrafen, der den Staat verpflichtete, bis März 1953 alle Gesetze an die neue Rechtslage anzupassen.
Im Deutschen Rundfunkarchiv ist die Rede verwahrt, mit der sie sich 1949 nach der erfolgreichen zweiten Abstimmung bei den Abgeordneten bedankte. Sie nennt ihren Sieg „eine Sternstunde“ und bleibt bescheiden: „Ich bin Jurist und unpathetisch, und ich bin Frau und Mutter und zu frauenrechtlerischen Dingen gar nicht geeignet.“ Sie definiert sich als Sozialistin, „die nach jahrzehntelangem Kampf um die Gleichberechtigung nun das Ziel erreicht hat“.
Die Anpassung des Familienrechts an den Grundsatz der Gleichberechtigung verzögerte sich um viele Jahre. Selbert starb 1986 in Kassel, zeitweilig in Vergessenheit geraten auch in der eigenen Partei. Die neue Frauenbewegung erinnerte sich ihrer. 1983 stiftete die Hessische Landesregierung den Elisabeth-Selbert-Preis für Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen. Seit gestern ist Selberts Nachlass in Kassel einzusehen: 137 Archivkisten, dazu Plakate, Broschüren, Flugblätter und ein Register, das auch im Internet eingesehen werden kann.