Von der schlesischen Knappschaft zur Chefarztbehandlung

Die Deutschen leisten sich ein Solidarsystem, in dem ausgerechnet die Reichsten und Gesündesten nicht drin sind. Ein Blick in die Geschichte

Das Versicherungsprinzip der Selbsthilfe hat seine Wurzeln im HandwerkDie Beamten des Berliner Polizeipräsidiums versicherten sich als Erste „privat“

BERLIN taz ■ Im Kern der Bürgerversicherung steht ein Wunsch: Die, denen es am besten geht, sollen auch ins allgemeine Gesundheitssystem.

Denn Deutschland leistet sich zwar ein öffentliches Gesundheitssystem mit einem solidarischen Ausgleich zwischen Reich und Arm, Single und Familie, Jung und Alt. Gutverdiener mit über 3.900 Euro brutto im Monat, Selbstständige und Beamte aber können sich daraus verabschieden. Sie gehen in die Privatversicherungen, die – vor allem junge Männer – mit niedrigen Prämien und besserer medizinischer Versorgung locken. Die Prämien steigen mit dem Alter an. Ein Zurück in eine gesetzliche Kasse ist praktisch so gut wie ausgeschlossen.

Kranke und Behinderte dagegen werden von den privaten Versicherungen gar nicht erst genommen. Für die dürfen die gesetzlichen Kassen aufkommen. Ein Parallelsystem aber, das neunzig Prozent der Bevölkerung solidarisch sein lässt und ausgerechnet die ohnehin privilegierten zehn Prozent aus der Solidarität entlässt, ist schizophren. Diese Schizophrenie, sagen die Experten – meist schulterzuckend –, lässt sich „nur noch historisch“ erklären.

Und die Historie geht so:

Das Versicherungsprinzip in Form der Selbsthilfe hat seine Wurzeln im organisierten Handwerk, den Zünften und Gilden, den Gesellenbruderschaften und Genossenschaften. Auch im Bergbau gab es schon im Mittelalter ein System genossenschaftlicher Hilfe. Daraus gingen die späteren „Knappschaften“ hervor. So zahlten die Knappen – Bergleute – im schlesischen Reichenstein seit 1509 zwei Heller vom Gulden Lohn in eine „Büchsenkasse“, und zwar für die „armen, verlebten, schwachen, verdorbenen und beschädigten Bergleute“.

Im 19. Jahrhundert gründeten dann immer mehr Unternehmer „Hilfskassen“ für ihre Fabrikarbeiter. Von sich reden machte ein gewisser Alfred Krupp. Er und seine Mutter Theresia gründen 1836 in ihrer Gussstahlfabrik mit damals knapp 50 Mitarbeitern eine Betriebskrankenkasse. Ab 1855 verpflichtete Alfred Krupp alle seine Arbeiter – er nannte sie „Kruppianer“ – zum Beitritt und übernahm dafür im Gegenzug 50 Prozent der Beiträge. Diese Aufteilung der Beiträge – die Hälfte zahlt der Arbeitnehmer, die Hälfte der Arbeitgeber – nennt man Parität. Die Gewerkschaften hängen bis heute sehr daran.

Reichskanzler Otto von Bismarck schuf 1883 das Gesetz zur Pflichtversicherung der Arbeiter. Er gilt damit als Vater der gesetzlichen Krankenversicherung – auch wenn er damit bloß die Arbeiter von der Sozialdemokratie fernhalten wollte. Unterdessen hatten auch andere Berufsgruppen schon die Vorteile einer ständischen Krankenversicherung erkannt. Vom Staat verordnen lassen wollten sie sich aber nichts.

Die Beamten des Berliner Polizeipräsidiums waren die Ersten, die sich „freiwillig“ und damit „privat“ versicherten. Lehrer und Geistliche, viele andere akademische Stände folgten. Es dauerte nicht lang, da hing an der Privatversicherung auch das Sozialprestige, „für sich selbst sorgen“ zu können. Auch für die Privatversicherungen wurde 1901 ein Gesetz geschrieben.

Strittig war jedoch um die Jahrhundertwende, ob denn auch selbstständige Handwerker in Bismarcks Sozialversicherung miteinbezogen werden sollten. Die Reichsregierung aber meinte, dieser „Rubikon in der Sozialpolitik“ solle nicht überschritten werden. Seither sind Selbstständige nicht pflichtversichert – selbst wenn sie schlecht verdienen.

Für die Grenze zwischen Bismarcks System und der privaten Versicherung wurde das viel sagende Wort „Friedensgrenze“ gefunden: Nur wenn die Grenze beachtet wird, herrscht Friede zwischen dem sozialen und dem marktwirtschaftlichen Sektor. Heutzutage sagt man Versicherungspflichtgrenze. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden immer mehr Bevölkerungsgruppen in Bismarcks System geholt: Angestellte, Rentner, irgendwann sogar die Studenten.

Seit 1930 sind Familienmitglieder gratis mitversichert. Gleichzeitig schrumpfte die Zahl der Kassen von über 20.000 auf inzwischen rund 300. Der Privatsektor kompensierte, was ihm an Versicherten verloren ging, durch immer ausgefeiltere Leistungspakete – Chefarztbehandlung, Einzelzimmer und andere Privilegien –, für heute über acht Millionen Beamte, Selbständige und Gutverdiener.

Die Befürworter der Bürgerversicherung sagen, sie wollen den Privatsektor gar nicht abschaffen, sondern sie wollen den „Wettbewerb“ zwischen gesetzlichen und privaten Kassen. Dabei wissen sie sehr wohl, dass dieser Wettbewerb nur zu den Bedingungen der gesetzlichen Kassen funktionieren würde. Eine Privatversicherung wie heute gäbe es dann nicht mehr. Deshalb reden die Gegner der Bürgerversicherung von „Zwangs-“ oder „Einheitskasse“ oder „AOK für alle“. 26 Millionen AOK-Versicherte dürfen sich hierüber zu Recht wundern. ULRIKE WINKELMANN