: Die Geister des Alten
Für die Kritiker der Agenda 2010 stagniert das Wachstum nicht, und auch das Sozialsystem bleibt bezahlbar. Sollen es halt die Unternehmen finanzieren
Wenn das Wall Street Journal Deutschland eine Schildkröte schimpft, die auf dem Rücken liegt, setzt das einen Reflex in Gang: Sollen uns die Kampfblätter des Neoliberalismus doch verschonen mit ihren Tiraden über die Notwendigkeit von Sozialabbau, Privatisierung und Flexibilität. Als wenn das gute alte Europa den schlechten Rat der Marktfetischisten bräuchte.
Und doch irritiert hin und wieder die Frage: Haben sie nicht manchmal Recht – wenigstens ein kleines bisschen? Ist es so schlimm, zehn Euro für einen Arztbesuch zu zahlen? Ja, es ist, wenn man am Existenzminimum lebt. Die Mittelschichten aber, 70 Prozent der Deutschen, können ein etwas niedrigeres Niveau des Sozialsystems hinnehmen, ohne ihr Lebensglück zu verlieren. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist die rot-grüne Agenda 2010 heiß umkämpft. Sosehr die Bundesregierung sie als alternativlos durchsetzen will, so sehr agitieren Linke, Gewerkschaften und Globalisierungskritiker dagegen.
Schwierig ist es, in einer solch heterogenen Koalition der Neinsager Positionen auszumachen, die als repräsentativ gelten können. Allerdings hat Attac, selbst ein Bündnis, in seiner Reihe „Basis-Texte“ ein Buch mit dem Titel „Sozialstaat“ vorgelegt, das viele Kritiken an der Reformpolitik der Bundesregierung bündelt. Die Botschaft lässt sich so zusammenfassen: Der Leistungs- und Versorgungsstandard unseres Sozialsystems kann und soll so bleiben, wie er gegenwärtig ist. Das System ist nicht zu teuer, bei den Ausgaben muss man nichts ändern, bei den Einnahmen schon. Da sollten die Gutverdiener, Kapitalbesitzer und Unternehmen stärker herangezogen werden.
Die Erläuterungen zum demografischen Wandel stehen unter dem Motto: „Die Krise ist eine Konstruktion.“ Attac zufolge ist die sich zunehmend öffnende Schere zwischen einer geringeren Zahl von Beschäftigten, die Beiträge in die Rentenkasse zahlen, und der steigenden Zahl von Alten kein Problem. Schließlich hänge die Fähigkeit einer Gesellschaft, ihre Rentner zu bezahlen, in erster Linie von ihrem Bruttosozialprodukt ab, also dem insgesamt zunehmenden Reichtum. Und dieser wachse in der Tendenz ja weiter.
Dabei scheinen die Autoren nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, dass das Wirtschaftswachstum in Deutschland abnimmt. Die durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts wird in den kommenden dreißig Jahren auf 1,7 Prozent geschätzt, während sie in den vergangenen dreißig Jahren 2,3 Prozent betrug. Dieser scheinbar geringe Unterschied bedeutet auf Basis des aktuellen BIP einen Wachstumsverlust von mindestens 12 Milliarden Euro pro Jahr. Parallel dazu steigen die Ausgaben für die Rente an: Während 1961 etwa 5,5 Prozent des deutschen BIP für die gesetzliche Altersvorsorge verwendet wurden, sollen es um das Jahr 2030 herum etwa 13 Prozent sein.
Der Zuwachs des gesellschaftlichen Reichtums nimmt ab, während die Aufwendungen für die Altersvorsorge steigen. BIP-Zuwachs und Rentenkosten haben sich entkoppelt. Daraus folgt, dass das bisherige System der Aufteilung des Bruttoinlandsprodukts auf die Löhne der Beschäftigten, die Gewinne der Unternehmen und die vom Staat organisierten Sozialtransfers nicht mehr so bleiben kann, wie es bisher ist. Es herrscht tatsächlich Veränderungsdruck.
Zum selben Schluss kommt, wer die Produktivität betrachtet. Hier argumentieren die Attac-Autoren, dass „ein Ende der Produktivitätsentwicklung nicht in Sicht“ ist. Daher werde es „immer möglich sein, steigende Belastungen zu finanzieren, ohne dass die Erwerbstätigen real schlechter gestellt würden“. Richtig ist der erste Teil des Arguments: Die Wirtschaft wird auch in Zukunft wegen des technischen und organisatorischen Fortschritts jedes Jahr durchschnittlich 1,8 Prozent mehr Waren mit demselben Einsatz von Arbeit oder Kapital herstellen können als zuvor. Kann man daraus aber ableiten, dass jährlich knapp 2 Prozent mehr Geld zur Verfügung steht, um wachsende Sozialleistungen zu finanzieren? Nein. Seit dem letzten Jahr steigt die Produktivität, doch das Bruttoinlandsprodukt stagniert. Nicht die gesamte Volkswirtschaft wird reicher, sondern nur bestimmte Unternehmen, die den technischen Fortschritt für sich zu nutzen wissen. In Zeiten der Stagnation aber ist es schwierig, die Rendite aus diesem Produktivitätszuwachs abzuschöpfen.
Das ginge nur mit Umverteilung des nach wie vor vorhandenen, wenn auch geringen gesellschaftlichen Mehrprodukts. Wenn, wie Attac argumentiert, die Beschäftigten nicht schlechter gestellt werden sollen, während die Sozialtransfers des Staates steigen, müsste man das notwendige Geld aus den Gewinnen der Unternehmen abzweigen.
Ist das wünschenswert? Durchaus. Man kann eine Belastung der Unternehmen, aber auch der Gutverdienenden und Kapitalbesitzer für gerechtfertigt halten, weil diese Gruppen in den vergangenen zwei Jahrzehnten begünstigt wurden. Ist es aber erfolgversprechend, diese Variante zu wählen? Die Blütezeit des Neoliberalismus ist gerade erst zu Ende gegangen, die Herrschaft der Ideologie des freien Marktes ist noch nicht gebrochen, der Bundesverband der Deutschen Industrie hat noch immer einen besseren Zugang zum Kanzler als der Deutsche Gewerkschaftsbund. Dieser hat keinesfalls, auch nicht zusammen mit Attac, die Macht, den Spieß herumzudrehen. Darüber sollte man sich nicht in die Tasche lügen. In dieser Situation eine Umverteilung zulasten der Konzerne zu verlangen, ist schlicht zu ambitioniert.
Viel wäre gewonnen, wenn die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums überhaupt so bliebe, wie sie bisher ist. Das würde bedeuten, dass sowohl die Beschäftigten und Versicherten als auch die Unternehmen einen gleichen Anteil an den zusätzlichen Kosten der Rente tragen müssten.
Die Forderung sollte nicht lauten „Umverteilung zulasten der Unternehmen“, sondern „Nein zur Umverteilung zulasten der Beschäftigten“. Denn das ist es, was tatsächlich passiert: Mit der teilweisen Privatisierung der Rente und der Auslagerung etwa des Krankengeldes aus der bisher von Unternehmen und Beschäftigten gemeinsam finanzierten Sozialversicherung werden die Bürger einseitig für die steigenden Kosten des Sozialsystem haftbar gemacht. Während Rot-Grün bei ihnen das notwendige Geld hereinholen will, entlässt man die Firmen aus ihrer Pflicht. Diese Ungerechtigkeit lohnt die politische Auseinandersetzung. Ihr erfolgreich entgegenzutreten wäre schon eine große Herausforderung.
Wer hingegen die Schere zwischen steigenden Kosten des Sozialsystems und stagnierendem Wachstum negiert, jeglichen strukturellen Veränderungsbedarf bestreitet und nur den Reichen ans Geld will, stellt sich in die falsche Ecke. Viele Leute sind da schon etwas weiter. Das hat der Deutsche Gewerkschaftsbund bei seinem misslungenen Versuch erfahren, gegen die Agenda 2010 zu mobilisieren.
HANNES KOCH