: Ich und mein Genom – eine komplizierte Beziehung
Der Fortschritt der Biowissenschaften hat die Dinge nicht vereinfacht. Helga Nowotny und Giuseppe Testa erinnern daran: Das Individuum ist mehr als sein Gencode
Wenn man sein Genom kennt, weiß man dann besser, wer „man“ ist? Eher nein: „Das Genom wurde zum säkularen Äquivalent der Seele“, zitieren die Autoren Alex Mauron in ihrem schmalen Buch über die „Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter“. In der öffentlichen Diskussion herrscht eine diffuse Form „des genetischen Essentialismus“.
„Ich“ ist meine Genstruktur. Der soziale Kontext, in dem sich das genetisch Wesentliche entfaltet, gerät in den Hintergrund. Und weil heute das Leben „lesen“ können auch das Leben verändern können heißt, wird diese Möglichkeit angesichts solchem Essentialismus sofort als Gefahr für das Ich gesehen. Je mehr wir eingreifen können, in das, was als „Ich“ gilt, umso mehr wird das reine, saubere Selbst hochgehalten – die „Natürlichkeit“ gegen die „Künstlichkeit“. Man sieht das schon an der „Fiktion des Natürlichen“ im Sport, bei dem nicht nur das Doping verboten ist – beim New Yorker Marathon wurde sogar das Tragen eines iPods untersagt, weil ein musikalischer Stimulus biochemische Reaktionen auslöst. Aber schon dieses Exempel zeigt, dass die Grenze zwischen „natürlich“ und „künstlich“ kaum zu ziehen ist – denn sind biochemische Reaktionen etwa nicht „natürlich“?
Es ist ein kluges kleines Bändchen, das die beiden Autoren vorgelegt haben, interdisziplinär im besten Sinn. Helga Nowotny, Vizepräsidentin des Europäischen Forschungsrats, ist eine große Nummer in der Wissenschaftsforschung, Giuseppe Testa ist Onkologe und Stammzellenforscher. Sie diskutieren neben den essentialistischen Mythologien, die da über die Hintertür hereinkommen, die Fragen der Wissenschaftsethik, des Rechts am Genom, aber ebenso die Indizien, die dafür sprechen, dass der Fortschritt der Biomedizin den Blick auf uns selbst verändert. Zum Beispiel: „In der Erfahrung der Betroffenen werden die Krankheit und das Risiko, daran zu erkranken, zu ein und demselben Zustand.“ Symptomatisch dafür ist der Fall jener Frau mit hoher Risikodisposition für Brustkrebs, die sich beide Brüste prophylaktisch operieren ließ.
Die moderne Lebenswissenschaft wird keine Frankensteins züchten. Eher wird sie nach Ingenieursart neue genetische Schaltkreise einbauen, Gene ein- und ausschalten – designerhaft und jederzeit revidierbar. Aber das „Leben“ wird dadurch natürlich dennoch verändert. Es ist auch nicht so, dass es auf der einen Seite „die Wissenschaft“ gäbe und auf der anderen Seite die Ethikräte, die sich längst überall etabliert haben. Die Wissenschaftler berücksichtigen mögliche ethische Vorbehalte von vornherein. So wurde ein Typus embryonaler Stammzellen entwickelt, in dem ein Gen deaktiviert ist, sodass sich diese Zell-Entität nie zu einem menschlichen Embryo entwickeln könnte – nur um das Aufkommen ethischer Bedenken schon im Voraus zu verhindern. Leicht denkbar, dass auch die Industrie einen ähnlichen Weg einschlägt: Firmen, die monopolistisch auf Geneigentum sitzen, werden Schwierigkeiten in der Öffentlichkeit bekommen, Firmen dagegen, die flexible Kundendienstleisterstrukturen vom Web-2.0-Typus etablieren, werden mit weit weniger Misstrauen rechnen müssen.
Nowotnys und Testas Buch taugt nicht als Stichwortverzeichnis für Alarmismus, eher zur Entspannung hypermoralischer Diskurse. „Ich“ ist mehr als nur mein Genom. Gewiss stellen sich heikle Eigentumsfragen, und es sind auch immer moralische Abwägungen nötig – die, da die Moral heutzutage glücklicherweise im Plural auftritt, Aushandlungsprobleme aufwerfen – aber das „Selbst“ steht nicht zur Disposition. Das „Ich“ ist nicht nur das Genom, und es ist immer schon durch äußere Einflüsse modelliert – das reine monadische „Ich“ mit seiner radikalen Natürlichkeit ist ein individualistischer Mythos, der karikaturhaft umschlüge, wenn man zu dem Schluss käme, das „Individuum“ wäre durch die endlose Buchstabenfolge des Gencodes auch nur annähernd charakterisiert. ROBERT MISIK
Fotohinweis:Helga Nowotny, Giuseppe Testa: „Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter“. Edition Unseld, Frankfurt/M. 2009, 150 Seiten, 10 Euro