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Archiv-Artikel

Zeitgenössisches für Kurze

Endlich mal ein Generalmusikdirektor, der seinen Job als oberster städtischer Musikbeauftragter ernst nimmt: Markus Poschner klappert die Schulen ab, um mit ihnen aktuelle Musik zu hören

Von Henning Bleyl

„Das, was passieren sollte, scheint passiert zu sein.“ Was sollen 90 SchülerInnen zwischen elf und 15 mit diesem Satz anfangen, den Markus Poschner auf ein Flipchart schreibt? Bremens Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Philharmoniker ist auf Schultour, um sein potentielles Publikum auf die Aufführung eines zeitgenössischen Werks vorzubereiten. Unverständlich wie der „passiert“-Satz scheint zunächst auch die Musik von Erkki-Sven Tüür, die die Philharmoniker in zehn Tagen in der „Glocke“ spielen.

Poschner hat einen ambitionierten didaktischen Ansatz. „Der Satz will etwas von euch“, sagt er den erstaunlich aufmerksam lauschenden Fünft- und Siebtklässlern im SZ Findorff. „Er gibt euch keine Informationen, sondern will die Phantasie anregen“ – so wie die Musik des 49-jährigen Esten. Poschner, seit 2007 in Bremen, setzt explizit auf die Assoziationsqualitäten „abstrakt“ wirkender zeitgenössischer Werke, um Kindern und Jugendlichen einen Zugang zu orchestraler Musik anzubieten: „Wenn man immer den ,Nussknacker‘ oder ,Bilder einer Ausstellung‘ nimmt, sind die möglichen Klangerfahrungen von vornherein eingegrenzt.“

Seit Poschner in der Stadt ist haben die Philharmoniker ihre musikpädagogischen Anstrengungen weiter intensiviert – zuvor fiel vor allem die Kammerphilharmonie durch spektakuläre Projekte wie „Melodie des Lebens“ auf. Da die „Kammer“-Kollegen viel auf Reisen sind, setzen die Philharmoniker ihren Schwerpunkt vor allem auf Nachhaltigkeit und alltägliche Arbeit: Bereits die Hälfte der Bremer Grundschulen werde durch regelmäßige Angebote wie die „Musikwerkstatt“ erreicht, in der vergangenen Spielzeit seien insgesamt 10.000 SchülerInnen zu Konzerten und anderen Angeboten gekommen.

Zurück zu den 90, denen Poschner gerade einen Ausschnitt aus Tüürs Cellokonzert vorspielt: „Was für Bilder sind dabei in euren Köpfen entstanden?“ fragt der 37-Jährige – und erntet ein geradezu cineastisches Spektrum von Klangeindrücken. „Fluch der Karibik“ ist die erste Assoziation. Eine Schülerin fühlt sich in eine Verfolgungsjagd in der Wüste versetzt und Henrik denkt „an Bambi, als der Wald brennt“. Die rasch aufkommende Debatte „seit wann guckst du denn Bambi?!“ wird von der Erkenntnis abgelöst, dass eben jeder seine eigenen Phantasien habe. „Das kommt auch drauf an, wie man sich gerade fühlt“, formuliert ein Siebtklässler.

„Es gibt Leute, die fahren ihr Leben lang immer an die gleiche Stelle zum Urlaub“, nimmt Poschner einen neuen Anlauf, um Offenheit für ungewohnte Klangwelten zu wecken. Konkret geht es darum, die SchülerInnen auf ein Tüür-Konzert am 23. März in der „Glocke“ vorzubereiten, für das auch 70 Berufsschüler angemeldet sind. Mit „phil sagend“ haben die Philharmoniker ein neues Konzertformat „für Jugendliche und junge Erwachsene“ entwickelt, das ganz auf Peer-Pädagogik setzt: Gleichaltrige erzählen dem Publikum von ihren Erlebnissen mit der später zu hörenden Musik, für das Tüür-Konzert haben Delmenhorster SchülerInnen sogar eigene Filme und Kurzgeschichten vorbereitet. Hintergrund ist ein vor Kurzem geschlossener Kooperationsvertrag mit der Musikprofil-Schule, der die kontinuierliche Einbeziehung der jeweiligen Jahrgänge in die Orchesterarbeit regelt.