Ein Bach aus reinem Glas

Platonische Dialoge mit Felswänden: Musikfestpreisträger András Schiff feiert in der Glocke das Gute, Wahre, Schöne – und nicht ein bisschen sich selbst

Keine Experimente bitte: Nur Kanonisches gelangt ins Repertoire

Feste feiern – aber wie? Gut, im Foyer gibt’s vorm Konzert des Bremer Musikfest-Preisträgers Gratis-Schaumwein – so war’s zumindest am Freitag. Aber das ist eine verzichtbare Sitte. Wichtig ist jedoch, dass, und interessant, wie der Geehrte auf seine Auszeichnung reagiert. Kraftmenschen würden das Bravourstück wählen, als dessen Held sich der Solist auf charmante Weise selbst zujubelt. Der intellektuellere Weg aber ist die große, kritische Reflexion.

András Schiff ist Träger des Musikfest-Preises 2003. Aus diesem Anlass zelebrierte der österreich-ungarische Ausnahme-Pianist in der Glocke Bach, den Ewig-Größeren: Die Goldberg-Variationen. Das ist ein kaum überbietbarer Akt der Selbstzerknirschung. Eineinviertel Stunde, die dem Interpreten keinen Moment der Entspannung gönnt, gerade weil er sich an dem Werk bereits seit rund 30 Jahren abarbeitet. Und ganz unabhängig davon, ob das Publikum, durch Sponsorensekt gedämpft, mitunter den Faden verliert: Vernehmbar tuschelnd tauscht man Mutmaßungen über die nunmehr erreichte Nummer der 30 Variationen aus. Nicht schlimm: Zum Schluss ertönt die Aria neu, rundet den Zyklus und sammelt alle versprengten Hörerschäfchen wieder ein.

Schiffs Klavierspiel ist ein nur bedingt kommunikatives Vergnügen. Seine Ideale heißen Ausgewogenheit und Transparenz. In ihm würdigt die Festspieljury einen Vertreter der reinen Lehre: Dass er sich „nie zu rastlosen Gastspielen“ habe hinreißen lassen, nennt sie als Grund für die Preisvergabe. Sollte das, verklausuliert, auch Anerkennung dafür sein, dass er jüngst das haiderisierte Österreich boykottiert hat?

Rühmenswert wäre es schon gewesen: Derartige Konsequenzen zu ziehen, ist unter E-Musikern kein verbreitetes Hobby. Zumal das Risiko größer ist, als bei politischen Sanktionen: Österreich ist ein bedeutendes Land – in puncto klassischer Konzertbetrieb.

Wenige Musiker entsprechen dessen Traditionsfixierung dabei so vollkommen wie Schiff. Für peinliche Crossover-Events kann er sich nicht erwärmen, aber auch mit Zeitgenossen weiß er herzlich wenig anzufangen: „Mir ist es sehr wichtig, keine zweitklassige Musik zu spielen“, hat der 1953 in Budapest geborene Pianist vor fünf Jahren bekannt. Keine Experimente, bitte. Dieser Devise ist Schiff treu geblieben: Schubert, Beethoven, Brahms und Bach, Bach, Bach. Eisige Höhen des Genies, platonische Dialoge mit hallenden Felswänden.

Vor allem Schiffs Bach klingt dadurch, auf den mittlerweile drei Einspielungen der Goldberg-Variationen ebenso wie im großen Glocke-Saal, klar wie eine frisch gereinigte Glasscheibe: Keine aufdringliche These, die aus der Interpretation eine epochale machen könnte, eher der Versuch, sich selbst tilgend, nur Medium zu sein.

Diese Kunstauffassung spiegelt den latenten Sadomasochismus der Branche. Die Komposition ist Nachhall des Wahren, Guten, Schönen. Es zu hören ist Gnade, sich ihm zu beugen eine Lust. Dezent betritt der Pianist den Saal, erst spät bemerkt von Beifallsspähern. Geschwind setzt er sich an den Flügel, damit das Störgeräusch schnell abebbt. Er schließt die Augen, hält inne, die schlanken Finger schweben über den Tasten, und – egal was es ist: Schiff spielt immer Sakralmusik.

Kenner dürfen schmunzeln über klug platzierte Stäubchen – einen ironisch-täppisch heraus geschlagenen cantus firmus im Bass, Minimalabweichungen in den Wiederholungen, starke, dann eingefangene und bezähmte accelerandi; sie runzeln die Stirne ob der – nicht grundlos also präferiert Herr Schiff die Instrumente Angelo Fabbrinis – unzureichend metallischen Klanglichkeit des Steinway.

Zugleich freuen sie sich über das geradezu schumannisierende Melos, das der Virtuos dem Instrument trotz solcher Widrigkeit abringt, gerade in der mystisch umraunten Variatio 25: Das macht ihm so schnell keiner nach. Und ebenso verfügt wohl kein lebender Pianist über seine Fähigkeit, die Vielzahl der Stimmen in Dialoge zu setzen, ohne dass auch nur eine die andere übertrumpfen würde, ohne dass auch nur eine von ihnen verschwömme. Wer zu grobe Ohren hat, hört hingegen nur, dass er Bach hört. Tröstlich: Das Schlechteste ist das jedenfalls nicht.

Schiffs Musik-Liturgie ist der unglaublich elitäre, aber in sich stimmige Versuch, das Ewige in der Gegenwart zu feiern. Sie hat mehr Vergangenheit, als Zukunft. Aber das darf ihr herzlich egal sein. Benno Schirrmeister