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Archiv-Artikel

Die Lektionen von Beslan

Die Geiselnahme in Nordossetien zeigt die Bereitschaft zu einer Gewalt ohne Grenzen und einen neuen Grad an Vernetzung der Terroristen. Ein Friedensprozess ist nicht in Sicht

Härte gegen Terroristen ist zu unterstützen – sie muss aber präzise und wirkungsvoll sein

Beslan hat uns schauerliche Lektionen erteilt. Einmal die, dass terroristische Gewalt wirklich keine Grenzen mehr kennt, was die „Weichheit“ ihrer Ziele betrifft. Die Ausrichtung solcher Gewalt auf Kinder ist auch im Umfeld islamistischen Terrors einzigartig. Im Russischen gibt es den Begriff bespredjel, der für Schrankenlosigkeit und Entfesselung steht und im nachsowjetischen Russland auf Konfliktfelder in der russischen Gesellschaft und Regionen wie den Nordkaukasus bezogen wurde. Mit der kindermordenden Gewalt der Geiselnehmer von Beslan hat bespredjel eine neue Dimension erlangt. Bezüglich Tschetscheniens ist die Entfesselung von Gewalt freilich seit langem ein Thema. So haben die russischen Truppen, die 1999 zum zweiten Mal nach Tschetschenien geschickt wurden, um dort angeblich Terrorismus zu bekämpfen und die Zivilbevölkerung vor ihm zu schützen, ein krasses Beispiel für die Entgrenzung militärischer Gewalt gesetzt. In ihrem Treiben haben sich alle Symptome von bespredjel entfaltet: schrankenlose Gewalt gegen Zivilisten, Korruption, Kriegsunternehmertum.

Im Ergebnis hat die „Anti-Terror-Operation“ ihr Einsatzgebiet und die dort lebende Gesellschaft weitgehend zerstört. Die „Politik der Tschetschenisierung“, die Putin seit 2002 verfolgt, legte dann Verantwortung für Sicherheit und Normalisierung in dem Kriegsgebiet in die Hände des lokalen Kadyrow-Klans, der sich als eigensüchtiger Gewaltakteur ebenfalls bald aller Schranken zu entledigen versuchte. Kriegsherren auf der Gegenseite wie Schamil Bassajew haben schon seit Anfang der Neunzigerjahre eindringliche Beispiele für skrupellose Gewalt im Kaukasus gesetzt. Tschetschenien hat heute weltweit eine der dichtesten Konzentrationen an Militär und Milizen.

Die andere Lektion besteht darin, dass man die regionalen und überregionalen Gewaltausstrahlungen des ungelösten Tschetschenienkonflikts nicht mehr ignorieren kann. Russland hat sich bei der Darlegung seines Konflikts mit Tschetschenien in einen Widerspruch verwickelt, auf den internationale Politik bislang nicht deutlich genug reagiert hat.

Einmal wird der Konflikt „internalisiert“, als rein innerstaatliche Angelegenheit dargelegt, in die sich internationale Politik nicht einzumischen hat. Gleichzeitig wird er „externalisiert“. Dann stellt Russland sein Vorgehen in Tschetschenien als Abwehr einer Aggression von außen dar. Gleich zu Beginn der zweiten Militärkampagne im September 1999 erklärte Putin, der erneute Konflikt mit Tschetschenien sei ein „Krieg gegen Russland, den uns der internationale Terrorismus mit dem Ziel erklärt hat, Territorien mit reichen Bodenschätzen zu ergreifen“. Nach dem 11. September 2001 und dem Geiseldrama von Moskau im Oktober 2002 hob die russische Regierung die externe Dimension noch verstärkt hervor.

So sehr dieses Argument auch legitimatorischen und propagandistischen Charakter aufweist, so unzweifelhaft ist es doch, dass Tschetschenien zu einem Brennpunkt islamistischer Solidarität geworden ist, dass „Mudschaheddin“ aus dem Ausland hier Station machen und dass im fragmentierten Lager des tschetschenischen Widerstands der islamistische Flügel immer mehr Zulauf erfährt. Die jüngere Generation der „bojewiki“ beruft sich inzwischen stärker auf islamischen Dschihad als auf nationale Unabhängigkeit, um Gewalt ideologisch zu legitimieren. Die Vernetzung des tschetschenischen Konfliktherds mit Dschihad-Bewegungen aus anderen Teilen des postsowjetischen Raumes und dem islamischen Ausland hat tief greifende Konsequenzen. Tschetschenien wird spätestens hier zu einer Angelegenheit für internationale Politik.

Die regionale Dimension von Vernetzung ist nicht weniger erschreckend. Nordossetien als Tatort ruft die Vernetzung kaukasischer Konfliktzonen in Erinnerung. Bevor Nordossetien in dem schauerlichen Zusammenhang mit dem Massaker in Beslan in die Schlagzeilen trat, stand Südossetien als Konfliktzone in Georgien im Mittelpunkt internationaler Besorgnis über das Wiederaufflammen eingefrorener Sezessionskonflikte des Südkaukasus. Die Südossetienkrise bewegte sich am Rande einer ernsthaften Konfrontation zwischen Georgien und Russland und provozierte in Nordossetien Demonstrationen gegen Georgien. Eine andere Assoziation: In Nordossetien fand 1992 ein blutiger Konflikt zwischen Osseten und Inguschen um einen Gebietsteil bei Wladikawkas statt, dessen Folgen bis heute nicht bewältigt sind. Hinweise darauf, dass sich unter den Geiselnehmern in Beslan auch Inguschen befanden, könnten eine ossetisch-inguschische Feindschaft neu beleben. Die Geiselnahme steht in einem Zusammenhang mit Gewaltakten in Inguschetien vor wenigen Wochen, bei denen tschetschenische und inguschische Terroristen kooperierten. So kann zumindest im Ostabschnitt des Nordkaukasus mit Tschetschenien als Schlüsselkonflikt im Mittelpunkt kein Gewaltereignis mehr isoliert betrachtet werden.

Härte gegen Terroristen, wie sie Putin angesichts von hunderten Todesopfern in Beslan erneut beschwört, ist eine Formel, die Unterstützung verdient. Doch das Problem mit der russischen Härte im Kaukasus sind ihre Präzision und ihr Effekt. Statt gezielter Härte gegen Gewaltakteure stand ein militärisches Vorgehen Russlands in Tschetschenien, das eher auf dem Entwicklungsniveau des Dreißigjährigen Krieges angesiedelt war und einen erheblichen Teil der lokalen Zivilbevölkerung vernichtete. Der Effekt: die Schaffung eines idealen Habitats für Terrorismus. Der Ausweg aus dieser Gewalt ist nicht leicht zu weisen, und eine rasche Befriedung Tschetscheniens ist in keinem Fall abzusehen.

Es ist offensichtlich: Der Konflikt in Tschetschenien strahlt regional und überregional aus

Drei Richtungen wären zu benennen, die alle mit viel „Wenn und Aber“ verbunden sind: erstens Verhandlungen Moskaus mit eigentlichen Konfliktgegnern, mit dem Teil des bewaffneten Untergrunds, der nicht eindeutig dem terroristischen Lager zuzuordnen ist. Ob der in diesem Zusammenhang genannte Maschadow und seine tschetschenische „Untergrundregierung“ im Rebellenlager denkbare Verhandlungsresultate umsetzen könnte, ist jedoch nicht klar. Oder zweitens eine echte „Tschetschenisierungspolitik“, die sich nicht an Kremlprotegés für eine Präsidentschaftswahl in der Konfliktzone bindet, sondern einen gewählten Präsidenten mit einem Minimum an Legitimität ausstattet. Drittens die Einschaltung internationaler Politik in die Konfliktbearbeitung. Sie scheitert bislang an der russischen Haltung, die sich in diesem Fall auf den „innerstaatlichen“ Charakter des Konflikts beruft. Außerdem drängt sich derzeit keine Kraft in der internationalen Politik danach, in Tschetschenien wirklich Verantwortung zu übernehmen. Tschetschenien war bisher ein gemiedenes Thema internationaler Politik. Ob der Schock von Beslan tief genug sitzt, um dies zu ändern, bleibt abzuwarten.

UWE HALBACH