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Archiv-Artikel

Was ist heute links?

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Dem Kapital wird’s genommen und den Menschen gegeben, ein Aktder Reinigung

Der Sprecher der parlamentarischen Linken, Michael Müller, warnte davor, die sechs Abweichler auszugrenzen, und versicherte, dass die parlamentarische Linke, in der rund 120 Abgeordnete organisiert sind, die Agenda 2010 nicht blockieren werde. Mit scharfen Worten kritisierte dagegen Andrea Nahles den Druck auf die sechs Abgeordneten. SZ, 29. September 2003

Na, sagte der Redakteur H., als ich ihm mein Thema für heute verriet, das wird aber ein kurzes Schlagloch. Da sind Sie doch schnell durch.

Das wollen wir erst mal sehen.

Die SPD-Linke, die sich gegen den Rückbau des Sozialstaats sträubt, macht einem die Zuordnung leicht. Das ist der ehrwürdige Glaube an den Staat als ausgleichenden Wohltäter, der es den Reichen nimmt, um es den Armen zu geben, was in der Bundesrepublik ein ausgefeiltes System hervorbrachte, das die Linke lieber weiterentwickeln als rückbauen möchte.

Wer hier seine Stimme erhebt, beruft sich auf die Armen und Ausgeschlossenen, und das ist auch gut so. Zu den Interessenten am Status quo des Sozialstaats muss man aber ebenso rechnen, wer bei diesem in Lohn und Brot steht. Im Juni war ich in Paris, Massenstreiks gegen die Pläne der Regierung, das Rentensystem zu reformieren. Am Donnerstag wollte die gesamte Metro streiken – was meine Arbeit erheblich behindert hätte –, und das Musée d’Orsay, das Donnerstagabend offen hat, wollte aus Solidarität mit den Streikenden um 18 Uhr schließen.

Allerdings fiel der Metrostreik aus, denn die Regierung verweigerte für die Zeit des Streiks die Entlohnung, und das konnten die Gewerkschaften nicht hinnehmen. Als ich um 17 Uhr am Musée d’Orsay war, um die Abendöffnung zu nutzen, bekam ich ein Ticket – aber um 17.15 meldeten die Lautsprecher, das Museum schließe um 17.30 Uhr. Aus Solidarität mit dem Streik der Metro (der ausfiel). Ja, resümierte die Kollegin D. wütend, die Verdammten der Erde, denen unsere ganze Solidarität gebührt, das ist heutzutage der öffentliche Dienst. Auf ihn kann sich die etatistische Linke berufen (während die Armen und Ausgeschlossenen ja schweigen und deshalb gut als Beispielfiguren verwendet werden können).

Nun haben die Studienräte, die das Fernsehen als Volksverdummung verabscheuen, und die Krankenhausärztinnen, denen die Ernährung und Lebensweise der Unterklassen ein Gräuel ist, Töchter und Söhne. Die sich vielleicht bei Attac engagieren? Und, weil sie in Genua und auf anderen Kampfplätzen dabei waren, die Eltern in selige Erinnerungen an ihre eigene Jugendrebellion tauchen? Womöglich engagieren die Eltern sich selbst bei Attac, weil sie am Ende doch noch die „Organisationsfrage“, wie das im Micky-Maus-Stalinismus der Siebziger hieß, beantworten wollen, „es geht einfach um meine Identität“.

Was wir auf der Linken, will ich sagen, verlässlich finden, sind Formen von Jugendradikalität, die den Mittelklassen behagen. Sie gibt sich – Mutter ist Ärztin oder Lebensmittelchemikerin – auch im Vegetarismus und Veganismus aus, der vom Nachwuchs her auf die Speisezettel von Eltern und sogar Großeltern zurückwirkt.

Wir betreten hier das weite Feld der Kultur- und Zivilisationskritik, wo rechte und linke Topoi zunächst klar zu unterscheiden sind. Die Linke macht sich wenig Sorgen um Deutschland als Nation, seine Macht und Stärke, seine Würde und Ehre. Interessant wird es bei Themen wie Gentechnologie und Bioethik: Hier huldigt die Linke einem Zentralfetisch von (unberührter) Natur, den die Rechte für das deutsche Blut nur noch schwächlich verteidigt. Überhaupt eignete sich die Linke eine Skepsis gegenüber Naturwissenschaft und Technik an, deren Hauptargumente rechts, von Heidegger bis Friedrich Georg Jünger, entwickelt wurden.

Die Kultur- und Zivilisationskritik, die besorgte Selbstbeobachtung der Gesellschaft, scheint mir heute fest in der Hand der linken Mittelklassen; rechts, wo diese kritischen Topoi im 19. Jahrhundert entstanden, um die linken Topoi zu entwerten: Unser Zentralproblem ist nicht die ökonomische Ausbeutung, sondern die vitale Degeneration – rechts rührt sich da gar nichts mehr. Das kräftige Echo auf Botho Strauß antwortete auf seinen Sound statt auf seine Argumente, die ohnehin poetisch stark verquorchelt waren, dunkle Drohungen.

Wer verkauft den Massen das schlechte Fernsehen, das viele Fleisch? Richtig, das Kapital, und damit sind wir beim Antikapitalismus als Grundströmung der linken Mittelklassen. Das Kapital strebt als eine Art Dämon danach, die Welt zu unterwerfen und auszubeuten, und mit der Globalisierung gelingt das dem Dämon immer erfolgreicher. Dass das expandierende Kapital Hungerkrisen in der Dritten Welt hervorrufe, damit knüpft dieser Antikapitalismus an die ehrwürdige Ausbeutungskritik der Sozialisten an – die weiteren pathologischen Formen zu beobachten obliegt der Zivilisationskritik, McDonald’s, Schwarzenegger, Sie wissen schon. Weil man hier sofort beim persönlichen Geschmack und bei Idiosynkrasien ankommt, darf sich als Antikapitalist schon fühlen, wer nur europäische Filme anschaut und der Slowfood-Bewegung anhängt.

Die Kultur- und Zivilisationskritik scheint mir fest in der Hand der linken Mittelklassen

Es versteht sich, dass die linken Mittelklassen deshalb genau wissen, wo der Dämon des Kapitals seinen Hauptwohnsitz hat: in den USA. Eine rhetorische Figur nutzend, die man gewöhnlich schon Kindern untersagt, die Retourkutsche, wies Jacques Derrida ja nach, dass sie der einzige Schurkenstaat seien, der überhaupt existiert. Ich kann mir gut vorstellen, dass unsere linken Mittelklassen, sollte George W. Bush eine zweite Amtszeit bekommen, einen satten Nationalismus ausbilden. So etwas hatten wir schon mal, Anfang der Achtziger, wegen der Nachrüstung, als Präsident Reagan uns wegen rein amerikanischer Interessen in einem Atomkrieg opfern wollte …

Was steht denn den Amerikanern und der Globalisierung letztlich entgegen? Der Nationalstaat, der sich, in der alteuropäischen Tradition, um das Wohlergehen seiner Bürger praktisch sorgt, was er mit Steuergeldern finanziert, die den Reichtum umverteilen. Dem Kapital wird’s genommen und den Menschen gegeben, ein Akt der Reinigung. Geld, das der Staat eintreibt und ausgibt, ist gut, es kann gar nicht genug sein – eine „materialistische Analyse“, wie das früher hieß, förderte hier flugs die ökonomischen Interessen der Mittelklassen, des öffentlichen Dienstes als ihrer Avantgarde zutage.

Die Amis glauben bekanntlich nicht so richtig an den Zentralstaat (die loony right hält ihn sogar für den großen Satan). Sich im Zweifelsfall an einen Wohltäter oder Patron zu wenden – in dem die Figur des guten Königs überlebt – liegt ihnen fern. (Dort inszenieren sich, wie die Kollegin Hanika bemerkte, sogar Bettler gern mit unternehmerischem Geschick.) Dagegen laufen die Forderungen und Klagen, mit denen sich unsere linken Mittelklassen zur Geltung bringen, auf eine solche imaginäre Zentralinstanz hinaus, dass sie sich bitte bilden möge. Am besten als Weltregierung der UNO, die Amerika und das Kapital entmachtet und den Reichtum der Welt umverteilt.

Na? Is doch ’ne ganze Menge, was heute links ist.