: Schwebende blaue Kreuze
Zum 30. Jubiläum des Museums gegenstandsfreier Kunst in Otterndorf stellt der Künstler Felice Varini geistreiche Bilderfallen
von Hajo Schiff
Schon 30 Jahre gibt es das Studio A in Otterndorf an der Unterelbe. Es ist ein ambitioniertes Museum, das auf zwei Ebenen in der alten Ratsscheune gegenstandsfreie Kunst nach 1945 ausstellt und über eine Sammlung von rund 500 Werken verfügt. In Deutschland gibt es nur in Ulm noch ein vergleichbares, allerdings größeres Fachmuseum dieser Art. Und so lange die Kunst in ihrer Nische bleibt, mag es ihr auch an abgelegenen Orten gut gehen. Provinz ist schließlich bei der heutigen allgemeinen Vernetzung keine Region mehr, sondern eine geistige Haltung. Die allerdings kommt dann doch zum Vorschein, wenn das Studio A zu seinem Jubiläum erstmals in den Außenraum geht und eine große Installation an der 30 Kilometer südlich gelegenen Burg Bederkesa in Auftrag gibt. Prompt zeigt sich der schon erwartbare Set von Beschimpfungen: Beim Bier in der Schlossschänke, in den Besucherbüchern, in bösen Briefen und selbst in einem Teil der Medien wird den Verantwortlichen Geldverschwendung und Schlimmeres vorgeworfen.
Dabei hat der Verweis auf den Psychologen sogar einen ungewollten Reiz, denn die Interventionen von Felice Varini arbeiten an einer nachhaltigen Irritation der Wahrnehmung. Es scheint doch gänzlich unmöglich, eine geometrische Zeichnung genau so in den dreidimensionalen Raum zu übertragen, als sei sie mal eben auf einem Foto dieses Ortes skizziert. Genau das aber schafft der in Paris lebende Schweizer Künstler mittels Nacharbeiten nächtlicher Projektionen in Klebestreifen.
Die nun mit leuchtend orangeroten Linien beklebte Ritterburg in Bad Bederkesa ist zwar recht pittoresk und geht im Kern auf das zwölfte Jahrhundert zurück. Aber dennoch sind die wesentlichen heute sichtbaren Teile eine Rekonstruktion der Jahre 1977 bis 1985 und somit jünger als der 1952 im Tessin geborene Künstler.
Wirklich alt geht es im Inneren des Gemäuers zu: Das archäologische Museum zeigt Funde der Altsachsen aus dem Elbe-Weser-Dreieck der Spätantike, darunter exquisit gedrechselte Tische und den einzigartigen, aus einem Erlenstamm gearbeiteten „Thron aus der Marsch“ aus einem erst 1994 entdeckten Bootsgrab des vierten bis fünften Jahrhunderts.
Doch draußen dominiert noch bis Januar die Kunst von Felice Varini. Und die zeigt so eindeutig wie selten, wie notwendig es ist, selbständig einen Standpunkt für die Wahrnehmung zu finden. Dabei geht es erst einmal konkret um das nur von einem Punkt aus mögliche virtuelle Zusammensetzen der fragmentierten Teilformen: An der Burg von Bederkesa erscheint eine siebenzackige Figur, eine unbekannte Form aus einem Strich, die über ihre bloß geometrische Beschreibung hinaus vielleicht ein magisches Geheimzeichen sein könnte. Im Museum in Otterndorf entstehen im ersten Stock drei wie im Raum schwebende blaue Kreuze, und im Oberlichtsaal bildet sich aus roten Linien, die den halben Raum überziehenden, ein gegen die Architektur versetzter Fluchtpunkt aus konzentrischen Kreisen.
Doch das Durchschreiten eines bezeichneten Raumes zum Finden des richtigen Standpunktes, von dem aus sich all dieses unterschiedlichen Elemente – Raumecken, Gitter und Dachziegel, Treppen und Türen – zu einer geschlossenen Form zusammenfügen, ist mehr als die Auflösung eines optischen Rätsels. Es ist Symbol der Wahrnehmung selbst. Denn unsere meist unreflektiert in Zentralperspektive gefasste Wahrnehmung ist schließlich nur ein aus der Renaissance stammendes Konstrukt gegenüber einer vielschichtigen Welt voller durchaus verschieden möglicher Standpunkte.
Doppelprojekt Felice Varini (bis 9.1. 2005): Studio A - Museum gegenstandsfreier Kunst Otterndorf und Burg Bederkesa im Landkreis Cuxhaven. Öffnungszeiten: Studio A: Di–Fr 10–13 sowie 15–18, Sa/So 15–18 Uhr. Die Außeninstallation auf Burg Bederkesa ist rund um die Uhr zu besichtigen. Das Museum Burg Bederkesa ist von Mai bis September Di–So 10–18 Uhr, in den übrigen Monaten bis 17 Uhr geöffnet.