: Wenn einer den Glauben verliert
Fast zu ernst, um als junger zeitgenössischer Dramatiker Erfolg zu haben: Claudius Lünstedt hat keinen Sound, sondern einen irritierend poetischen Ton. Auch sein drittes Stück „Vaterlos“ zeichnet das beunruhigend gewalttätige Bild einer Gesellschaft, der die Vaterfiguren abhanden gekommen sind
VON ESTHER SLEVOGT
Von zeitgenössischen Dramatikern wird erwartet, dass sie diskurstechnisch auf der Höhe der Zeit und absolut markenfähig sind. Deswegen muss ihre Gesellschaftskritik nicht nur ins Schwarze treffen, sondern auch einen gewissen radical chic ausstrahlen, ohne den man heute als Dramatiker kaum noch etwas werden kann. Und dann kommt da plötzlich einer wie der 1973 geborene Claudius Lünstedt – einer, der fast zu ernst ist und zu nett, um es als zeitgenössischer Autor zu etwas zu bringen.
Seine Stücke haben keinen Sound, sondern einen kargen, bisweilen irritierend poetischen Ton. Manche Kritiker witterten nach der Premiere seines jüngsten Stückes „Vaterlos“ sogar Kitschalarm. Ein jugendlicher Brandstifter und Amokläufer, der von Claudius Lünstedt in den mythischen Mantel einer uralten Geschichte aus Ovids Metamorphosen gekleidet wird, das klingt in am kapitalistischen Realismus geschulten Ohren offensichtlich skandalös. Aber Lünstedt liebt offene Formen, weshalb Realismus für ihn gar nicht in Frage kommt.
„Doch natürlich muss man mit dem Stück in der Gegenwart ankommen“, sagt Lünstedt, „wenigstens mit dem Gefühl.“ Aus der Gegenwart stammen auch Lünstedts Stoffe: junge, sanfte Männer, die zu Gewalttätern werden, wie in „Musst Boxen“, Lünstedts zweitem Stück, das demnächst in Nürnberg uraufgeführt wird. Oder zu so zärtlichen, fieberträumenden Mördern wie Felix in „Vaterlos“, das Stephanie Sewalla im Frühjahr am Theaterhaus Jena inszenierte und das jetzt in den Sophiensaelen zu sehen ist. Alle Stücke sind unterschwellig von der Frage getrieben, was mit einer Gesellschaft passiert, in der es kein funktionierendes Vaterbild mehr gibt.
Mit seinem ersten Stück „Zugluft“ hat Lünstedt im letzten Jahr den Else-Lasker-Schüler-Preis bekommen. Sein zweites Stück „Musst Boxen“ bekam ebenfalls einen Preis. „Vaterlos“, Stück Nummer drei, war eine Auftragsarbeit für das Theaterhaus Jena, das Dresdener TiF und die Sophiensaele. Dieser jährlich an einen Nachwuchsautor vergebene Stückauftrag mit Inszenierungsgarantie ist inzwischen selbst schon fast so etwas wie ein Theaterpreis.
Es geht um Felix, einen Jugendlichen ohne Vater, der sich in die Vorstellung hineinsteigert, der Sohn des Sonnengottes zu sein. Auf der blindwütigen Suche nach seinem Vater setzt Felix die Welt um ihn herum in Brand und wird zum Mörder an jedem, der sich ihm auf seiner Vatersuche in den Weg zu stellen versucht. Unterwegs trifft er komplett retardierte Formen von Männlichkeit, Männerkarikaturen, Rest-Machos im Loser-Kostüm. Am Ende wird er von einem Mädchen, seiner Freundin Lela, getötet.
Doch auf ein Gespräch über Männer- und Väterbilder lässt sich Lünstedt nicht ein. Er wollte nur sehen, was passiert, wenn einer den Glauben verliert, sagt er leise, und dessen Versuch, vor der Illusionslosigkeit zu fliehen, misslingt. Mit Schlagworten kann er nichts anfangen. Deswegen stört ihn auch, wenn man sein Stück als Versuch liest, einen Amokläufer zu verstehen, obwohl er es nachvollziehen kann.
Claudius Lünstedt ist in München geboren, in den Neunzigerjahren hat er am Leipziger Literaturinstitut studiert. Seit ein paar Jahren lebt er jetzt in Berlin, das er noch immer als großes Labor der deutschen Vereinigung empfindet. Er bedauert, dass er zu jung gewesen ist, um die DDR noch bewusst zu erleben. In Leipzig hat er als Student nach der Wende zumindest den Transformationsprozess mitgekriegt, obwohl es am Institut zwischen Ost- und Weststudenten keine wirklichen Beziehungen gab. Sein zweites Stück „Musst Boxen“ beschreibt den Überlebenskampf eines jungen Mannes, der den umgekehrten Weg gegangen ist – kurz vor dem Mauerfall von Ost nach West. In Bayern begegnet ihm die Freiheit als großes Nichts, der er am Ende nur mit Gewalt begegnen kann.
Es ist vor allem die Sprachlosigkeit, an der Lünstedts Figuren zugrunde gehen, die Leere und Leitbildlosigkeit der Welt. Doch es gibt im Augenblick wenige Autoren, die für diese Sprachlosigkeit so dichte und im besten Sinne unzeitgemäße Bilder finden.
„Vaterlos“, 9.–12. September, 20 Uhr, Sophiensaele, Sophienstr. 18, Mitte