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Archiv-Artikel

Armut in Neukölln wächst

Fast 15 Prozent der Neuköllner leben von Sozialhilfe. Um die Innenstadt bildet sich ein regelrechter Armutsgürtel. Betroffene kommen hier immer seltener heraus

Einen Bäckerladen zu besuchen, kann aufschlussreich sein. Die Bäcker in der Neuköllner Karl-Marx-Straße unterbieten sich mit Sonderangeboten, der Preisknüller gestern war: fünf Schrippen für 40 Cent. Solche Offerten sind nicht nur Lockangebote. Sie zeigen auch, dass die Leute, die hier wohnen, wenig Geld haben.

Die Sozialwissenschaftler bestätigen diese Vermutung. Die Gegend um die Karl-Marx-Straße ist eine der ärmsten der Stadt, fast jeder Fünfte lebt hier von Sozialhilfe. Dies ist das Ergebnis einer Neukölln-Studie des Instituts für Angewandte Demographie (Ifad), die Institutsleiter Harald Michel gestern vorstellte. In der Studie hat die Ifad-Forscherin Ulrike Hagemeister erstmals die Daten aller 44.000 Neuköllner ausgewertet, die im April dieses Jahres Sozialhilfe bezogen.

Die Ergebnisse sind wenig überraschend, aber erschreckend. Der Anteil der Sozialhilfeempfänger ist in den vergangenen zwei Jahren gewachsen, er liegt bei knapp 15 Prozent und damit deutlich über dem Berliner Durchschnitt. Im Bezirk sind die Stütze-Gebiete ungleich verteilt: Schwerpunkt ist Nord-Neukölln mit den Altbaugebieten Schillerpromenade, Karl-Marx-Straße, Roseggerstraße und Köllnische Heide. Problematisch ist auch die Gropiusstadt.

Insgesamt bestätigt sich ein stadtweiter Trend: Die Innenstadt umschließt ein Armutsgürtel, der von Tiergarten über Wedding bis nach Neukölln reicht. Hier haben sich regelrechte Sozialhilfe-Milieus entwickelt. Das heißt, dass Kinder aus Sozialhilfe-Familien ebenfalls in die Sozialhilfe rutschen. 32 Prozent aller Neuköllner Sozialhilfe-Empfänger sind Nichtdeutsche, bei einem Anteil von 22 Prozent an der Gesamtbevölkerung.

Hauptursache für die Sozialhilfe-Abhängigkeit ist die hohe Arbeitslosigkeit im Bezirk. Bemerkenswert ist aber auch: Bei fast 3 Prozent der Sozialhilfe-Bezieher reicht der Lohn eines Vollzeitjobs nicht aus, ihre Familie zu ernähren.

Der hohe Anteil Arbeitsloser unter den Sozialhilfe-Empfängern lasse sich aber nicht nur durch die schlechte Situation auf dem Arbeitsmarkt in Berlin erklären, heißt es in der Ifad-Studie. Wichtig sei auch die schulische und berufliche Ausbildung: Ein Fünftel aller Sozialhilfe-Empfänger hat noch nicht mal einen Hauptschulabschluss, fast zwei Drittel haben keine abgeschlossene Berufsausbildung, bei den Nichtdeutschen sind es gar drei Viertel. Demgegenüber sind nur 2,5 Prozent der Stütze-Empfänger Akademiker, hier sind die Unterschiede zwischen Deutschen und Nichtdeutschen gering.

Dass die Arbeitsmarktreform Hartz IV in Neukölln Abhilfe schaffen könnte, glaub Ifad-Chef Michel nicht. Dafür seien die Instrumente zu ungenau, so Michel. Eine türkische Mutter mit mehreren Kindern lasse sich so sicher nicht in den ersten Arbeitsmarkt integrieren – wenn sie es überhaupt wollte.

Rosig jedenfalls ist die Neuköllner Zukunft nicht: Die Armut ist auf absehbare Zeit ein beherrschendes Thema. Für Besucher des Stadtteils hat das sogar Vorteile: Schrippen und Döner bleiben billig. RICHARD ROTHER