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Archiv-Artikel

Ein Fragespiel

Was ist Heimat? Wiederholt sich Geschichte? Wozu ist eine Staatsangehörigkeit gut? Die türkische Videokünstlerin Özlem Sulak sucht Antworten auf Fragen, die sich ihr in den Weg stellen. Die Ergebnisse sind in der Bremer GAK zu sehen

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Özlem Sulak war 21 Jahre alt und fuhr mit einem Zug durchs Ruhrgebiet, als sie entschied, dass sie Künstlerin sein wollte. Es war eine sehr praktische Entscheidung, denn sie kam gerade von einem Workshop für Videotanz, das Essen war gut gewesen, auch der Wein und sie hatte mit den anderen Teilnehmern, die Mitte dreißig und älter waren, über Kunst diskutiert und einige neue Fragen entdeckt. „Wenn das Künstler-Sein ist, dann werde ich Künstler“, dachte sie.

Das ist jetzt fast neun Jahre und einige Länderwechsel her. Özlem Sulak dreht seitdem Videos, „weil ich das Schneiden mag“, sagt sie. Das versteht man nicht sofort, vermutlich ist es das Selbst-Gestalten, das sie daran mag, das Erzählen und Erklären mit Bildern. Özlem Sulak ist eine schmale, lebhafte Frau. Sie könnte DJ sein in Liverpool, wo sie ein paar Jahre gelebt hat und vielleicht Tänzerin geworden wäre, wenn nicht ein Unfall dazwischengekommen wäre. Sie könnte auch Philosophin in Istanbul sein, wo sie studierte, nachdem sie sieben Jahre ein amerikanisches Elite-Internat besucht hat. „Ich dachte Philosophie könnte ein schönes Spiel sein für all meine Fragen“, sagt sie. „Aber an meiner Uni war es gar kein Spiel“, stellte sie fest und ging, weil es ihr zu viel wurde mit den Denkverboten.

Jetzt dreht sie Filme, um ihre Fragen zu beantworten und sie hat das Glück, Stipendien dafür zu finden. Das nächste wird sie nach Hannover bringen, zuvor war sie in einem Kommunenhaus in Hildesheim, die letzten Jahre hat sie in Bremen verbracht. Dort sind in der Bremer Galerie für aktuelle Kunst (GAK) drei ihrer Arbeiten zu sehen. Der Titel lautet: Aufenthaltserlebnis. Vielleicht steckt darin schon das, was an Sulaks Arbeiten so anzieht: die Mischung aus Geschichtenerzählen und Erkenntnisinteresse.

„Granny“ war noch eine Aufzeichnung in eigener Sache sozusagen, nämlich der Migrationsgeschichte von Sulaks Großmutter. Zu Beginn ist die alte Frau mit ihrer Schwester auf dem Sofa sitzend zu sehen, zwei alte erschöpfte Frauen mit Kopftuch, ihre nackten Füße berühren sich beinahe. „Zwei Bäuerinnen“, denkt man, aber das stimmt nur halb, die Frauen waren einmal zwei junge Städterinnen aus Sarajewo, die Klavier spielten und Französisch lernten, bevor sie mit ihrer Familie in den 1930er Jahren nach Anatolien zogen.

Die Mutter verlor alles

In dem anatolischen Dorf gab es keinen Strom, geschweige denn ein Kino und niemand sprach Französisch. Die alten Frauen erzählen das in aller Deutlichkeit und zugleich sehr lakonisch. „Unsere Mutter verlor alles, was sie war“, sagen sie. Die Töchter konnten nicht ausgehen, nicht mit Jungen flirten, wie sie es aus Sarajewo kannten. Sie waren wie Vögel, die man mitten im Flug ausbremste. Ein Friseur kam zu ihnen nach Hause und machte sie schön – aber niemand durfte sie so sehen. Sie heirateten Männer, die ungleich ungebildeter als sie selbst waren.

„Man musste die Tradition des neuen Ortes übernehmen, man konnte nicht außerhalb ihrer leben“, sagt Sulak über diese Ehen, die keine Zwangsehen waren. „Mein Mann hat mir in 30 Jahren nicht gesagt, dass er mich liebt“, sagt ihre Großmutter in einer Szene. „Vielleicht hätte ich mich dann öffnen können.“ Ihr Fazit ist bitter, aber auch von einem ungebrochenen Selbstbewusstsein: „Was hätte aus mir werden können, wenn ich studiert hätte …“, sagt die alte Frau, die alles getan hat, damit ihre Kinder zur Universität gingen.

Özlem Sulak hat einen Anschlussfilm zu „Granny“ gedreht. Er heißt „Vratnik 13“ und ist eine Erkundungsreise in das heutige Sarajewo, um zu sehen, was von den Erinnerungen ihrer Großmutter und Großtante noch Bestand hat. Im Film telefoniert Sulak per Handy mit ihrer Großmutter, die ihr den Weg zu ihrem Elternhaus beschreibt. Sie weiß noch die Namen der Straßenbahnhaltestellen, aber als ihr die Enkelin die neue Karte des ehemaligen Jugoslawien zeigt, kann sie es nicht fassen: „All diese kleinen Länder …“, sagt sie. Es geht um Familienorte und Heimat in diesem Film und zugleich verlässt er den Rahmen einer interfamiliären Spurensuche: Sulak begegnet zwei 16- und 17-jährigen Jungen, die ihr in perfektem Deutsch erzählen, dass sie sieben Jahre in Deutschland gelebt hätten. „Wir waren kurz davor, Abitur zu machen“, sagen sie. Doch dann schob man sie ab. „Wir wären jetzt Ingenieure, statt arbeitslos in Sarajewo“, sagen sie. Und Özlem Sulak klingt noch immer überrascht und empört, wenn sie sagt: „Es ist genau das, was meine Oma gesagt hat. Aber 70 Jahre später.“

Seitdem sind ihre Filme expliziter politisch – obwohl sie nach wie vor von einer privaten Erfahrung ihren Ausgang nehmen. In „Deutsches Auswandererhaus“ begleitet sie vier türkische Frauen beim Gang durch das Bremerhavener Auswandererhaus. Sulak selbst hatte zuvor nach 13 Versuchen der deutschen Bürokratie eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis abgerungen. Sie fragte sich, warum Freunde von ihr nach 30 Jahren in Deutschland keinen deutschen Pass besaßen, und sie fragte sich, was anderen die Staatsangehörigkeit bedeutete.

Unbehagen in der Türkei

Özlem Sulak hat Freundinnnen für diesen Film begleitet – „Ich muss mit ihnen trinken gehen können“, sagt sie über die Menschen, die in ihren Arbeiten auftauchen – und natürlich ist das eines der Pfunde, mit denen sie in der deutschen Kunstwelt wuchern kann: der nahe Blick in eine Migrationswelt, der sich den Nicht-Migranten nur auf diesem Wege erschließt. Genau den würde sie für ihr nächstes Projekt aufgeben: ein Stück über die Folgen des Militärputsches 1980 für die Türkei.

Auch hier ist eine persönliche Frage Ausgangspunkt: „Warum ärgere ich mich jeden Tag über etwas, wenn ich in der Türkei bin, und zwar meist etwas Politisches?“ Als sie an der Kunsthochschule in Istanbul die Technoversion eines Militärmarsches benutzte, riet ihr ihr Professor davon ab, den Film zu zeigen. Aber die Erinnerungen gehen noch weiter zurück: Als Kind erlebte sie, wie ihr Vater die Umschläge der Bücher, die er las, mit alten Kalenderblättern beklebte. Ihre Großmutter schrieb ihren Namen auf Kyrillisch auf und ermahnte sie, den Zettel zu zerreißen: „Wenn sie ihn sehen, denken sie, wir seien Kommunisten und werfen uns ins Gefängnis.“

Özlem Sulak sagt, dass sie die Generation ihrer Eltern als frustrierter erlebt als die ihrer Großmutter: „Sie hat nicht gegen das Schicksal verloren, sie war klüger.“ Jetzt sucht sie zwölf Menschen, die ihr erzählen, wie sie den Tag des Putschs erlebt haben. Dazwischen wird sie das Stipendium der Villa Minimo in Hannover antreten. Sie wird noch eine Weile in Bremen leben, das sie mag in seiner Unkompliziertheit. Danach wird sie vielleicht nach Dänemark gehen, dessen Filme ihr gefallen, vielleicht bekommt sie ja auch ein Stipendium in Paris. Sicher ist nur, dass sie wieder ihre Großmutter besuchen wird, zusammen mit ihren Kusinen, und sie werden ihr versichern: „Oma, aus uns werden Professorinnen.“ Eben diese Oma fand es nicht schlimm, das Özlem Sulak die Uni schmiss. Sie fand, sie sollte das tun, was sie tun wollte. Und es gefiel ihr, dass die Filme, die ihre Enkelin von ihr machte, nun in ganz Europa zu sehen sind.

„Aufenthaltserlebnis“ ist bis zum 26. 4. in der GAK in Bremen zu sehen.