: Wiedergefundene Musik
Vom Vater kopiert, von der roten Armee verschleppt: Carl Philipp Emmanuel Bachs lange verschollene Johannes-Passion ist in Bremen erstmals wieder zu hören
„Mit der Erschließung dieser Funde muss die Musikgeschichte neu geschrieben werden“, sagt der schwedische Organist und Komponist Hans Ola Ericsson. Starke Worte, denen sich Joshard Daus, der in Bremen ansässige neue Direktor der Berliner Singakademie, anschließt: „Diese Partituren werden die Welt erobern!“
Gemeint sind die Bestände der Berliner Singakademie, die die russische Armee nach Ende des zweiten Weltkrieges nach Kiew gebracht hatte. Sensationell ist deren Fund im Keller einer Bibliothek durchaus. Der amerikanische Musikwissenschaftler Christian Wolff hat die 260.000 Seiten Noten der verloren geglaubten Bibliothek anläßlich einer Arbeit über Manuskripte von Johann Sebastian Bach aufgespürt. Bewegend hat Wolff im vergangenen Jahr in Bremen von seiner zehnjährigen Suche berichtet – große Teile davon taugen für einen Krimi.
„Wir müssen nun eine Struktur aufbauen, um diese Schätze der Welt zur Verfügung zu stellen“, sagt Daus jetzt anlässlich der bervorstehenden Aufführung von Carl Philipp Emmanuel Bachs „Johannes-Passion“. Zehn Prozent der wiederentdeckten Werke stammen von Johann Sebastian Bachs ältestem Sohn, darunter über zwanzig Passionen und 50 Klavierkonzerte, alle seit ihrer Entstehungszeit nicht mehr aufgeführt.
Carl Philipp Emmanuel wurde 1763, nach einer dreißigjährigen, eher glücklosen Zeit am Hofe Friedrichs des Großen (der seine Musik nicht sonderlich mochte), Musikdirektor der fünf Hauptkirchen in Hamburg und hatte in dieser Position Passionen zu schreiben. Wie er das erledigte, nämlich durch Integration von Werkteilen anderer Komponisten, vor allem seines Vaters, war damals zwar nicht unwidersprochen, galt aber keineswegs als ehrenrührig – es war eine weit verbreitete Praxis. In der im vergangenen Jahr durch Ton Koopman in Bremen aufgeführten Matthäus-Passion gibt es einige unveränderte Chorsätze von Vater Johann Sebastian, und auch die nun bevorstehende Aufführung der Johannes-Passion schließt mit dem Choral des Papas: „Ruhet wohl“ aus dessen Johannes-Passion.
Gleichwohl bleibt genug, um sich auf die originale Musik Carl Philipps zu freuen, der in seiner Zeit sehr viel bedeutender war als der Vater. Mit seinen schnell wechselnden Affekten und Stimmungsbildern wollte er „das Herz rühren und die Leidenschaften erregen“. Wie sehr ihm das gelang, ist allein an der Reaktion der nachfolgenden Generation abzulesen: „Wer mich gründlich kennt, der muss finden, dass ich Emmanuel Bach sehr vieles verdanke“, äußerte Joseph Haydn, und Mozarts berühmte Bemerkung: „Er der Vater, wir die Buben“ bezog sich nicht etwa auf den großen Alten, sondern auf Carl Philipp Emmanuael Bach.
Ute Schalz-Laurenze
9. Oktober, Glocke Bremen: Johannes-Passion von C. Ph. E. Bach. Mit dem Barockorchester „Capriccio Basel“ und der Berliner Singakademie