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Archiv-Artikel

Der Kampf um die Interpretation der unveränderten Lage

Fast 20 SPD-Abgeordnete haben ihrem Fraktionschef Post mit Kritik an den Reformgesetzen zukommen lassen. Was das für die Abstimmung am 17. 10. bedeutet, weiß niemand

BERLIN taz ■ Wenn in Deutschland schon der Regierungschef gestürzt werden soll, dann muss auch alles seine Ordnung haben. Wo kommen wir denn sonst hin. Am Ende gibt’s noch eine Revolution, die nicht ordnungsgemäß angemeldet war.

Also haben die Rebellen der SPD-Bundestagsfraktion ihre Änderungswünsche für die Gesetze, die am 17. Oktober im Bundestag zur Abstimmung stehen und die die Regierungszeit von Rot-Grün vorzeitig beenden könnten, fein säuberlich ausformuliert und in Briefform an ihren Fraktionschef Franz Müntefering geschickt. Müntefering hatte darum in einer Art Ultimatum gebeten, und die Post hat er am Sonnabend auch bekommen. Wie viele Briefe er erhalten hat und was darin steht – dazu wollte der Fraktionsvorsitzende am Wochenende nichts sagen. Fest steht aber, dass mehr als die sechs Abgeordneten, die bereits gegen die Gesundheitsreform gestimmt hatten, ihre Bedenken zu Papier gebracht haben. Fraktionsvize Michael Müller von den Linken spricht sogar von rund 20 Briefen.

Die Kritikpunkte konzentrieren sich, so ist aus der Fraktionsspitze zu hören, vor allem auf die geplante Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV). Seit Tagen schon wird hinter den Kulissen von den Fachpolitikern der Koalition über die Details der Sozialhilfereform verhandelt. Den Kritikern geht es vor allem um vier Punkte:

– Wer das neue Arbeitslosengeld II bekommt, soll seine private Alterssicherung, etwa Lebensversicherungen, behalten dürfen.

– Arbeitslose sollen keine Minijobs unter dem Niveau der bisherigen Sozialhilfe annehmen müssen.

– Die neue Arbeitslosenhilfe soll über der bisherigen Sozialhilfe liegen.

– Es muss genauer geregelt werden, welche Arbeit als zumutbar gilt. Arbeitslose sollen in Zukunft jede zumutbare Arbeit annehmen.

Die SPD-Fraktionsspitze hat bereits vergangene Woche erkennen lassen, dass sie zu „Präzisierungen“ der Hartz-Gesetze bereit sei, die Reformen aber auch nicht verwässert werden dürften. In der Regierung heißt es, dass sie sich bei den Kritikpunkten eins und vier einen Kompromiss vorstellen könnte. Was das konkret für die Abstimmung am 17. Oktober und damit das Schicksal der rot-grünen Koalition bedeutet – niemand weiß es. Und so hat der Kampf um die richtige Interpretation der unveränderten Lage begonnen.

„Ich bin optimistisch“, säuselt der Kanzler, und zu der soften Seite seiner ansonsten knallharten Linie passt, dass er sich am Dienstag mit der Linken Andreas Nahles im Kanzleramt getroffen hat. Genau, mit jener Nahles, die er tags zuvor im SPD-Vorstand noch abgebürstet hatte und die jetzt mit dazu beitragen soll, die Abweichler zur Vernunft zu bringen. Die Stimmung in der Fraktion sei inzwischen „weitaus weniger dramatisch“ als noch vor ein paar Wochen, sagt auch Michael Müller und spricht wolkig davon, dass die Linke die „falsche Alternative zwischen Neuwahlen und Anpassung“ vermeiden müsse.

Nur einige der Rebellen sprechen eine klare Sprache. „Wenn die Gesetzentwürfe nicht nennenswert nachgebessert werden, kann ich nicht zustimmen“, sagt Ottmar Schreiner. „Ich lasse mich nicht veralbern“, sagt Sigrid Skarpelis-Sperk. Andere Agenda-Kritiker klingen scheinbar kompromissbereiter. „Wir wollen ja nicht den gesamten Reformprozess aushebeln“, sagt Klaus Barthel. In der Fraktionsführung wird das gleich interessengesteuert interpretiert: Die lenken ein, heißt es.

Nichts Genaues weiß man nicht.

JENS KÖNIG