Ein deutsches Leben

Kurt Oesterle rehabilitiert einen Vergessenen aus dem Hochsicherheitstrakt in Stuttgart-Stammheim: den Wärter Horst Bubeck. Zudem entlarvt er das Isolationsfolterspiel von Regierung und Gefangenen

„Stammheim“ zeigt: wie sehr man blind, blöd und verstrickt war in jenen Jahren

von RENÉE ZUCKER

Es gab Momente bei der Lektüre, da wünschte ich mir, der Autor hätte seine Gefühle ein wenig gezügelt. Sein Mitgefühl für den Vollzugsbeamten Horst Bubeck – und seine Verachtung für die Inhaftierten in Stammheim und ihre Sympathisanten. Ich hätte mir gewünscht, Kurt Oesterle hätte die Entwicklung jedweden Gefühls dem Leser überlassen. So taumelte ich lesend zwischen zustimmender Empörung und emotionalem Widerstand gegen die „Gefühlsführung“, weil es so haarscharf an der eigenen Biografie, an den eigenen Irrtümern entlangschrammt.

Oesterle liegt wahrscheinlich mit seinen Einschätzungen richtig. Andreas Baader war vermutlich ein unglaubliches Arschloch, dessen größte Waffe im Kampf gegen „das Schweinesystem“ seine ungebrochene Virilität, Gefühllosigkeit und Brutalität war. Gefühllosigkeit, sowohl gegen andere wie gegen sich selbst, scheint überhaupt die entscheidende Energie in diesem deutschen Drama gewesen zu sein. Welch rüder Ton zwischen den RAFlern herrschte, wie sie sich gegenseitig abwerteten, wie persönliche Ängste diskreditiert wurden, allen voran von Baader – das ist oft unerträglich zu lesen. Ebenso unerträglich ist jedoch die Gewissheit, dass man selbst in jenen Jahren auch Anteil an dieser Gefühllosigkeit, Selbstgefälligkeit und Brutalität hatte, auch wenn man kein ausgesprochener Sympathisant war. „Stammheim“ deprimiert, weil man erkennt, wie sehr man verstrickt, blind und blöd war in jenen Jahren. „Gefühl und Härte“ war unser liebstes Graffito in Berlin-Kreuzberg.

Letztes Jahr hat Kurt Oesterle in der taz eine Vorstudie zu diesem Buch veröffentlicht, ein Gespräch mit dem Amtsinspektor Horst Bubeck, dem verantwortlichen Vollzugsbeamten des siebten Stocks im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim. Schon da wurde deutlich, dass hier ein Mensch rehabilitiert werden sollte, über dessen bloße Existenz sich die meisten von uns überhaupt keine Gedanken gemacht haben – ein „Grüner“, wie die Beamten abfällig von Juristen genannt werden, für RAF-Symphatisanten das letzte Glied in einer Kette von Unterdrückern; ein Schließer, Wärter, Karl Arsch. Horst Bubeck. Dabei sind Bubeck und seine Kollegen innerhalb ihrer Dienstzeit mehr Mitgefangene in Stammheim gewesen, als sie sich eingestehen wollten.

Horst Bubeck ist in Oesterles Beschreibungen nicht unbedingt jemand, den man lieb gewinnt, aber man bringt ihm Respekt entgegen für seine Gradlinigkeit und Integrität, seine Zweifel und seine Nachdenklichkeit, seinen Gerechtigkeitssinn. Dafür nimmt man seine irritierende Pedanterie in Kauf, die ihn von allem, was durch seine Hände ging, Kopien anfertigen ließ – egal ob es Anordnungen der Anstaltsleitung waren, weggeworfene Zettel oder Briefe, die er zwischen Häftlingen hin und her trug.

Für ihn war der siebte Stock die Kommandozentrale im Krieg der Gefangenen. „Was die vier alles unternommen haben, um mit dem Komplex ‚Haftbedingungen‘ erfolgreich zu agitieren“, sagt Bubeck, „das kann man auch unter den Gesichtspunkten des modernen Marketing nur genial nennen.“

Kampfmittel Nummer eins war der Hungerstreik – fünfmal in fünf Jahren gegen die „staatlichen Vernichtungsmaßnahmen“ eingesetzt. Wer abspringen wollte, so Oesterle, wurde von Anwälten unter Druck gesetzt. „Es werden Typen dabei kaputtgehen“, hatte Baader geschrieben. Als Erster ging Holger Meins kaputt. Es gab in dieser Kampfstrategie offenbar eine festgelegte Reihenfolge, welches Leben wann aufs Spiel gesetzt werden sollte. Stefan Aust behauptete gar, Baader, Ensslin und Meinhof hätten während des Hungerstreiks heimlich gegessen, Bubeck hält dies für glaubwürdig.

Gerade die Beschreibung der Hungerstreiks und der ihnen folgenden Zwangsernährung zeigt eklatant die Barbarei auf, die sich unter denjenigen breit gemacht hatte, die vermeintlich für eine bessere Welt kämpften. Wie sich Ulrike Meinhof, obwohl geschwächt, nach der Zwangsmahlzeit einen Finger in den Hals steckte, um alles wieder auszubrechen; wie Baader Schläuche vom Anstaltsarzt erbat, um die Selbsteinführung zu üben; wie allein Raspe tatsächlich hungerte, während die anderen Essen in der Zelle versteckten.

Die Anwälte kommen sowieso nicht gut weg. Für Bubeck waren sie allesamt arrogante Vertreter ihrer Zunft. Am schlimmsten kam ihm Otto Schily vor, der mit Eiseskälte vorgegangen sei. Bubeck: „Sie alle tragen Mitschuld am Ausgang der Geschichte, auch wenn sie persönlich keine Waffen eingeschmuggelt haben. Wenn mir damals jemand gesagt hätte: Diese Herren werden später Minister, Parlamentarier oder Staatssekretäre sein, dann hätte ich gesagt: Schon möglich, aber nur in einem Staat, in dem Baader Bundeskanzler ist.“

Laut Bubeck/Oesterle hatte kein Häftling der Nachfolge-Generationen derart „luxuriöse“ Haftbedingungen wie die vier – zumindest bis zur Kontaktsperre während der Schleyer-Entführung im Herbst 1977. Den Umgang beider Seiten (Staat und Gefangene) mit dem Thema „Isolationsfolter“ stellt Oesterle als eine Art Doppelpass-Spiel dar. Der Staat tat nichts gegen die Lügen, weil er so die Mehrheit des Volkes beruhigen konnte: Die Terroristen bekämen doch, was sie verdienten. Und die Gefangenen konnten sich als Märtyrer gerieren und jeder Menge prominenter Unterstützung sicher sein.

Es gab aber auch Gruppen, die sich nicht manipulieren ließen. Ein Kassiber der Roten Hilfe spricht etwa davon, dass in Wirklichkeit mit den Hungerstreiks Privilegien durchgesetzt werden sollten. „Der Hungerstreik lügt, wenn er von Folter spricht.“

Dafür, dass Kurt Oesterle dem nicht geachteten und teilweise auch missachteten Horst Bubeck eine Stimme gab, gebührt ihm Dank und Hochachtung. Aber auch sich selbst hat er wie stellvertretend für uns andere Zeitzeugen und Randbeobachter mit hineingebastelt. Allerdings gebührt ihm das Vorrecht, schon damals etwas nachdenklicher als andere gewesen zu sein. 1976 arbeitete Oesterle als 21-jähriger Zivi in einem Stuttgarter Jugendwohnheim. Dort lebte ein gleichaltriger einsamer Mann, der für Ulrike Meinhof schwärmte. Er liebte ihre „Reinheit und Zielstrebigkeit“, er bewunderte ihren kompromisslosen Abgang und er folgte ihr in den Freitod, indem er sich selbst an einer Starkstromleitung hinrichtete.

Der Freitod von „Schutzbefohlenen“ muss etwas so Traumatisches sein, dass man es offenbar kaum vergessen kann. So, als wenn man selbst eine Mitschuld trüge. Oesterle schreibt: „Für mich sollte Werner Staiger der Mensch bleiben, den ich nicht davor hatte bewahren können, an sich selbst einen Mord zu begehen.“ Es ist wahrscheinlich müßig, darauf hinzuweisen, dass es kaum gelingt, einen Menschen vor seinem Schicksal zu bewahren. Diesem Schicksalsschlag des Autors verdanken wir nun sein hervorragendes Buch, das er sonst vielleicht nicht mit dieser Intensität und dieser Leidenschaft geschrieben hätte.

Seine Parteilichkeit macht Kurt Oesterle darin gleichzeitig verwundbar und unangreifbar. Trotz seines Engagements bleibt er selbst bescheiden und sein Anliegen lauter. „Stammheim“ ist ein furchtbares Buch. Und es war längst fällig.

Kurt Oesterle: „Stammheim. Die Geschichte des Vollzugsbeamten Horst Bubeck“. Klöpfer und Meyer, München 2003, 184 Seiten, 18,90 €