Vergesst Hitler!

„An Sie, lieber Bruno Ganz, Sie berühmter Seelendarsteller, habe ich nur eine Frage: War Hitler ein Mensch?“ Franz Josef Wagner in „Bild“:

Es herrscht eine merkwürdige Stimmung: eine Mischung aus Aufgeregtheit und Ermüdung: „Der Untergang“ kommt ins Kino – und alles tut so, als hätten wir es mit einem bedeutsamen Ereignis zu tun, mit einem Film, der ein Wegzeichen in der fortwährenden Vergangenheitsverarbeitung der Deutschen zu werden verspricht. So wie die „Holocaust“-Serie 1979, so wie Martin Walsers Paulskirchenrede oder die Wehrmachtsausstellung. Mit erregtem Timbre in der Stimme fragen Talkshowmaster vorab, ob man denn Hitler überhaupt als Menschen zeigen darf.

Darf man? Diese Frage ist nicht erkenntnis-, nur verkaufsfördernd. Sie legt nahe, dass es eine Tabuzone gibt – und wenn es um Verbotenes geht, wollen wir natürlich alle dabei sein. Etwas Ältere, die sich noch vage an die letzte Hitler-Festspiele der deutschen Medien Ende der 70er erinnern, winken eher müde ab. Damals wurde diese Frage in dem gleichen bedeutungszitternden Ton an Hans Jürgen Syberbergs und Joachim Fests Hitler-Filme gestellt (allerdings mit mehr Recht und intellektuellem Gewinn).

The song remains the same. Neben dem Marketinggetöse gibt es aber ein paar lohnende Fragen: Soll man sich eigentlich mit Hitler befassen? Gibt es eine Art Bilderverbot? Wer hat es verhängt? Gilt es noch? Und: Verstehen wir mehr von der NS-Zeit, wenn wir Bruno Ganz im Führerbunker gesehen haben? Oder weniger? Ist „Der Untergang“ wirklich eine Markierung auf dem Weg in die Historisierung? Ist das endlose Reden über den „Untergang“ ein Abwehrzauber, um das Hitler-Gespenst endlich zu bannen? Oder, im Gegenteil, ein Zeichen, dass Hitler endgültig ein duftes Partythema geworden ist, mit dem sich ein paar diskursive Geländegewinne machen lassen?

Das linke Argument gegen die Hitler-Manie liegt nahe, überzeugt aber nicht. Es lautet, dass nicht Männer Geschichte machen, sondern Klassenkämpfe oder gesellschaftliche Strukturen entscheidend sind – und der biografische Blick ablenkt. In der marxistischen Geschichtsschreibung fehlt daher nicht zufällig eine plausible Idee zur Rolle Hitlers. Der Versuch, das Hitler- Regime im Rückgriff auf Marx’ 18. Brumaire als bonapartistische Herrschaft zu deuten, war eher eine Verlegenheitslösung.

Das ist ein Defizit. Denn offenkundig war Hitler die wesentliche Figur im NS-Reich (mehr als Stalin in der Sowjetunion, trotz des Personenkults). Mit Hitler ging das Dritte Reich auf und unter. Der gesamte Nazi-Apparat schien sich nur um den Führer zu drehen, ja seine Lebenszeit war entscheidend für die Kriegsplanung.

Zu dem Irrationalen, das sich dem an Interessen geleiteten Blick verschließt, gehört die Todesliebe der Nazis. Der Kult um die Märtyrer der Bewegung, die Inszenierung von Hitler als einsamer Herrscher, der die zu Blöcken gepressten Massen abschreitet, verriet ein innig-vertrautes Verhältnis zum Tod. Hitlers Apokalypsesehnsucht, die den eigenen Tod mit einkalkulierte, zeigt sich schon im Moment des Sieges. Im November 1941 sagte er: „Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein eigenes Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen, stärkeren Macht vernichtet werden. Ich werde dem deutschen Volk dann keine Träne nachweinen.“ Vielleicht war der totale Untergang das eigentliche, geheime Ziel. Dafür spricht Hitlers Kriegserklärung an die USA und dass die Nazis 1941 so desinteressiert waren, ihre militärischen Siege in ein stabiles Imperium, in ein von Deutschen beherrschtes und terrorisiertes Europa umzumünzen. Die Logik der Nazis ging in keiner noch so brutalen Machtpolitik auf. Nicht das Imperium, sondern der ewige Krieg, das Reich mit immer blutenden Grenzen war der Traum der Nazis.

Für diese unterirdische Katastrophensucht hat die marxistische Forschung keinen Begriff. Sie hat zwar einige leider weitgehend in Vergessenheit geratene Erkenntnisse über die Unterstützung des Großkapitals für Hitler hervorgebracht und die katastrophale Allianz der deutschen Eliten mit den Nazis beleuchtet. Aber zu Hitlers Antisemitismus, zu dem Judenmord, der keiner kapitalistischen Rationalität folgte, fiel der marxistisch inspirierten Linken nicht viel ein. Was Hitler angeht, hat die Linke Nachholbedarf.

Traudl Junge war Hitlers Sekretärin und eine der wichtigsten Quellen für alles, was über die letzten Tage im Führerbunker geschrieben worden ist. 2002, kurz vor ihrem Tod, war Traudl Junge, eine klug reflektierende Frau, in einem Dokumentarfilm zu sehen. Flüssig, eloquent, ja fast literarisch beschreibt sie die Mischung aus Alltag und Irrsinn im Bunker – es ist fast zu perfekt, um wahr zu sein. Nur einmal gerät der Erzählfluss ins Stocken – bei Hitlers Tod. Ihr erstaunliches Erinnerungsvermögen setzt für einen für einen Moment aus. Dann sagt sie, dass sie damals „plötzlich einen Hass gegen Hitler empfand, weil der uns einfach im Stich gelassen hatte“.

Das ist ein Schlüsselsatz – auch für die Deutschen. Alexander und Margarete Mitscherlich entwarfen 1967 in dem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ eine Kritik der nachkriegsdeutschen Mentalität. Erst, so ihre These, hätten die Deutschen ihre unterwürfige Liebe zu Hitler, den idealisierten Führer, in Hass verwandelt, dann die vakante Stelle der Autorität in ihrem Psychohaushalt mit den Alliierten neu besetzt, und dann die NS-Zeit verleugnet und „entwirklicht“. Damit hätten die Deutschen Selbsthass vermieden – eine Art Schutzreaktion, um der Erkenntnis zu entgehen, dass sie ihre narzisstischen Größenfantasien auf einen Massenmörder projiziert hatten. Der Unwille, um Hitler zu trauern, war, so Mitscherlich, die Grundlage der virtuosen deutschen Verdrängungskünste.

Diese These ist oft bezweifelt worden. Der Kurzschluss zwischen Individuen und einer recht nebelhaften Kollektivpsyche ist, so Tilmann Mosers Kritik, fragwürdig, ebenso diffus bleibt, ob es um politisch-moralische Urteile geht oder um psychoanalytisches Verstehen. Und doch scheint eine Beschreibung richtig zu sein: „Der Mangel an Trauerarbeit“, so Mitscherlich, „lässt Hitler als eingekapseltes psychisches Introjekt weiterbestehen.“ In der Tat blieb die Figur Hitler nach 1945 für viele ein nur notdürftig gebanntes Phänomen, das wie eine Infektion eingekapselt wurde, weil sie offenbar wie ein böser Krankheitsherd jederzeit wieder ausbrechen konnte.

Das erklärt vielleicht auch, warum Hitler im Kino kaum vorkam – und wenn, wollte man ihn nicht sehen. Einen der wenigen Versuche machte G. W. Pabst 1955 mit „Der letzte Akt“, der Hitlers Ende im Führerbunker zeigte. Das Geschehen im Bunker wurde mit Hilfe von Traudl Junges Erinnerungen so authentisch wie möglich gezeigt (genau so wie im „Untergang“). Dazu erfand der Drehbuchautor Erich Remarque eine Spielhandlung im brennenden Berlin (exakt das Gleiche hat Bernd Eichinger getan). „Der Untergang“ ist eigentlich ein Remake.

Ein Journalist berichtete damals von der Premiere des Films 1955 (nachzulesen in Michael Tötebergs ausgezeichnetem Aufsatz im Filmbuch zum „Untergang“). Zuerst wurde gelacht als Albin Skoda als Hitler auftrat, später ungläubig geschwiegen, weil man den Irrsinn nicht mit sich selbst in Verbindung bringen konnte. Ein Kölner Geschäftsmann meinte: „Es war gespensterhaft, wie ein Geschehen auf einem andern Planeten.“ In Deutschland war der Film ein Flop – und Hitler blieb ein Gespenst von einem anderen Planeten.

Neben der Verleugnung gab es schon rasch nach 1945 etwas anderes, nämlich eine Art Folklorisierung Hitlers. Man interessierte sich, wie schon seit 1933, für Hitler privat – und dieses Interesse war maßlos und unstillbar. Alles, was Kammerdiener, Diplomaten, Sekretärinnen oder alte Nazikameraden über seine Vorlieben und Abneigungen, über IHN und Hund Blondie, sein vegetarisches Essen und Eva Braun zu sagen hatten, wurde gedruckt und gelesen. Guido Knopp hat dieses Genre nicht erfunden, nur perfektioniert.

Die Figur Hitler war, wenn wir Mitscherlich folgen, für die Generation, die ihm zugejubelt hatte, das Verkapselte, Verdrängte. Und heute? Der Bann hat sich im Laufe der Jahrzehnte gelöst. Joachim Fests Dokumentarfilm „Hitler – Eine Karriere“ sahen 1978 eine Million Zuschauer im Kino. Ein affirmativer, unsäglicher Film, meinten viele. Aber das Unsagbare, Unzeigbare war Hitler schon vor 25 Jahren nicht mehr. Der schreckensstarre Blick auf Hitler ist nicht vererbt worden. Von dem Bilderverbot ist nur ein leichter Nervenkitzel übrig geblieben. Hitler und die Naziikonografie sind längst Teil der Popindustrie geworden. Die Rolling Stones posierten schon vor 30 Jahren auf einem Cover in Naziuniformen.

„Der Untergang“ bedient nun das hartnäckige Interesse an Hitler privat. Bruno Ganz zeigt den netten Chef, das brüllende Monster, den kläglichen Greis, den Realitätsblinden, der Armeen befehligt, die es nicht mehr gibt, den Tyrannen, der noch die Letzten mit in den Tod reißen will. Das evoziert ein bisschen Grusel und ein bisschen Mitleid.

Eichinger und Regisseur Oliver Hirschbiegel halten sich, was den Bunker angeht, an die Fakten. Sie wollen zeigen, wie es denn eigentlich gewesen ist. Damit sind sie irgendwie auf der sicheren Seite – und verfehlen, dass dieser Untergang auch eine geheime Wunscherfüllung der Nazis war. Bilder für die Vermischung von Selbstzerstörung, Todesfaszination und Ratio wären riskant gewesen. Es gibt sie nicht.

Stattdessen hält sich Eichinger an das Übliche: good guys/bad guys, Irrsinn gegen Vernunft. Den Fanatikern Hitler/ Goebbels stehen Speer und vor allem der SS-Arzt Schenck gegenüber, der ohne Unterlass Verwundeten hilft und heldenhaft Humanität verkörpert. Das ist gewiss nicht als Ehrenrettung der SS gemeint. Aber im Kino, so wie Eichinger/Hirschbiegel es sich nur vorstellen können, muss es halt Gute und Böse geben. „Der Untergang“ zeigt eine Apokalypse in Watte. Am Ende radelt Traudl Junge, von Alexandra Maria Lara mit staunenden Kinderaugen gespielt, in Richtung Bundesrepublik.

Die Großfeuilletons reden unverdrossen von dem „Untergang“ als dem „wichtigsten Geschichtsprojekt seit Jahren“. Frank Schirrmacher weiß, dass unsere Beschäftigung „mit Hitler fast sechzig Jahre nach Kriegsende in eine neue Phase tritt“. So wird „Der Untergang“ zum Akt der Emanzipation oder gleich zum Lackmustest für die Nation hochgejazzt. Dass wir nun Hitler in Auge blicken und diesen Schreckensblick endlich, ja endlich aushalten – dies ist Teil einer Werbestrategie, die auf Vergesslichkeit und homöopathisch verabreichte Gruseleffekte setzt.

Oliver Hirschbiegel sagt: „In Deutschland wird die Sicht auf das Dritte Reich seit sechzig Jahren pädagogisch konditioniert – das führt nur in die Stagnation.“ Doch nun ist endlich Schluss mit der antifaschistischen Volkspädagogik. Verwunderlich, dass dieses Ende ausgerechnet ein Film markiert, der sich von Pabsts „Der letzte Akt“ vor 50 Jahre nicht sehr unterscheidet. Überflüssig zu sagen, dass das Bilderverbot, das 1955 existierte, nichts mit Antifa-Pädagogik zu tun hatte.

Wo früher wirklich Verdrängung und versteckte Schuld waren, regiert heute Marktschreierei. Weil das Hitler-Bilderverbot nicht mehr existiert, wird es umso heftiger beschworen und inszeniert – und mannhaft gebrochen. Das ist vielleicht wirklich eine neue Phase. Die Welt hat Bernd Eichinger zum Historiker geadelt. Bedeutungsgewinne, wohin man schaut. Die Superlativrhetorik, die Koketterie mit Tabubrüchen, die Selbststilisierung zu heldenhaften Kämpfern gegen den politisch korrekten Kanon – dieses Wichtigkeitsgerede übersteht man am besten mit einem Gegenprogramm: Vergesst Hitler! Das wäre angesichts des seit 70 Jahren unstillbaren Interesses vieler Deutscher an Hitler privat wirklich eine Emanzipation.

Und nun? Nun werden die Massen ins Kino strömen. Danach in der Kneipe werden sie Bruno Ganz’ Schauspielkunst loben und dass Corinna Harfouch mit 50 noch immer toll aussieht. Dann wird man das Thema wechseln und sich der Krise von Bayern München widmen.

Hitler ist kein Gespenst von einem anderen Planeten mehr. Hitler ist nicht mehr so wichtig. Kein schlechte Nachricht. Diesen Film hätte es dafür nicht gebraucht.