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Archiv-Artikel

Der Arzt von Berlin

Der gute Geist im Führerbunker: Doch wer war Ernst Günther Schenck, wenn ihn nicht Bernd Eichinger und Oliver Hirschgiebel zeichnen?

In „Der Untergang“ ist er eine Leuchtfigur. Er hilft den Darbenden, schaut fassungslos auf die Nazi-Rollkommandos, die „Verräter“ erschießen, und läuft tapfer durch sowjetisches Feuer, um vergessene Alte und Kranke zu retten. Und im großen Finale versucht er desperate SS-Männer davon abzuhalten, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.

In Bernd Eichingers und Oliver Hirschgiebels „Der Untergang“ ist Professor Schenck, wie er respektvoll genannt wird, nur eine Nebenfigur, aber eine wichtige. Denn er verkörpert den Gegenpol zu Hitler und Goebbels. Wer war Ernst Günther Schenck?

Vor allem ein Multifunktionär. 1933 trat er in die SA ein. 1940 wurde er Ernährungsinspekteur der Waffen-SS, später auch der Wehrmacht. Federführend war Schenck bei der so genannten Plantage im KZ Dachau, einer Großanbaufläche für über 200.000 Heilpflanzen, mit denen unter anderem Vitaminpulver für die Waffen-SS hergestellt wurde.

Laut Aussagen von Häftlingen in Dachau starben auf dieser Plantage 1938 mehr als hundert an Entkräftung und der Zwangsarbeit. Für Schenck war die Dachau-Plantage der Beginn seiner SS-Karriere. Dort brachte er es 1944 bis zum Obersturmbannführer, 1945 zum SS-Standartenführer. 1943 entwickelte er eine Proteinwurst, die für die SS-Fronttruppen gedacht war. Die Wurst, die aus Abfällen bestand, testete Schenck an 370 Häftlingen im KZ Mauthausen. Laut einem Brief des für das KZ-System verantwortlichen SS-Obergruppenführers Oswald Pohl an Heinrich Himmler starben bei diesem Ernährungs- bzw. Hungerexperiment etliche KZ-Häftlinge. Noch im Winter 1944 veröffentlichte Schenck in Zeitungen, so der Publizist Ernst Klee, „Durchhalteprosa“.

Bis 1955 war Schenck in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. In seinen Memoiren bekundete er, ihm sei es stets nur darum gegangen, „den Hunger zu bekämpfen. Für mich gab es keinen anderen Feind als ihn.“ Zudem rühmte er sich, Kindernahrung nach Auschwitz gebracht zu haben. In der Bundesrepublik war Schenck einer der wenigen NS-Ärzte, die ihre Karriere nicht fortsetzen durften, wohl auch weil er so spät aus der Sowjetunion heimgekehrt war. 1963 wurde in München ein Dienststrafverfahren gegen ihn eingeleitet. Das Experiment mit an Hungerödemen leidenden Häftlingen, so hieß es dort, „erweist den Ernährungsversuch als frivol und offenbart eine Auffassung, die den Menschen wie eine Sache oder ein Versuchskaninchen betrachtet“. Die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit attestierte ihm 1997, ein „Arzt mit Leib und Seele“ zu sein.

Der Berliner Politikwissenschaftler Christoph Kopke, der derzeit seine Dissertation über Schenck schreibt, resümiert, dass in dessen umfangreichen Veröffentlichungen nach 1945 jede „selbstkritische Auseinandersetzung mit dem NS oder der SS“ fehlt. Die Darstellung Ernst Günther Schencks in „Der Untergang“ spiegelt seine Erinnerungen wider – stets bemüht, das Leid der Zivilisten zu lindern. Dieses Bild muss für jene letzten Tage in Berlin keineswegs falsch sein. Aber ein Blick auf die ganze Biografie ergibt ein schroff anderes Bild als jenes des menschenfreundlichen Arztes, das „Der Untergang“ entwirft.

In dem Buch zum Film (erschienen bei Rowohlt) findet sich übrigens kein Wort über Schencks SS-Karriere und die Experimente mit KZ-Häftlingen.

STEFAN REINECKE