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Archiv-Artikel

Schwimmen, zusammen

13. Preis unseres Sommer-Schreibwettbewerbs Strandgeschichten: Zwei Minuten. Ohne Verlust. Oder auch der Wind stiehlt die Zeitvon KATJA HILLE

Von oben kommt er mir entgegen. Den Kopf gesenkt, die Haare offen. Älter und überraschender als vermutet. Prijatno, sagt er in die Dunkelheit hinein. Das bedeutet: hallo, angenehm, aber auch: bis dann, und beim Essen: guten Appetit. Er sieht mich an. Ich sage nichts. Ich weiß nicht, was er meint. Bis ich so weit bin, ist er vorbei. Ich sehe ihm nach. Er streicht sich eine Strähne hinters Ohr und schaut zurück. Ich bin froh, nicht zu stolpern, seinen dritten und vierten Blick nicht zu verpassen. Zwei Minuten. Ohne Verlust.

Am ersten Tag verschwendet er Zeit mit meinem Pass. Der Typ neben ihm schreibt die fremden Wörter und die Zahlen ab. Der Zerzauste sieht ihm zu. Dreizehn Sekunden lang betrachtet er mein Foto. Dann, länger, die Buchstaben meines Namens, meiner Adresse, meiner Augenfarbe. Ich gehe inzwischen Kaffee trinken. Unsere erste Begegnung. Sieben Minuten.

Am dritten Tag stiehlt der Wind uns Zeit. Sonnenschirme stürzen. Die Aufgabe des Zerzausten ist es, sie wieder aufzurichten. Vor mir. Hinter mir. Neben mir. Ich sitze auf dem warmen Steinboden und schaue ihm zu. Ich weiß, er hasst den Job. Nicht immer. Aber in diesem Moment. Er würde jetzt gern eine Zigarette rauchen. Wir sehen uns an. Von vorn. Von der Seite. Von hinten. Wir würden gern in den Wellen schwimmen, zusammen. Aber der Zerzauste muss Schirme aufstellen, und ich muss in der Sonne liegen. Ich schließe die Augen. Öffne sie für jeden weiteren Blick. Dreizehn Minuten, die zählen.

Später. Ein Taucher spricht ihn an, deutet auf die wogende See und das kleine Boot. Langsam nähert sich der Zerzauste dem Kai. Er streicht sich die Strähne hinters Ohr, schaut kurz zu mir und springt. Ich beneide ihn. Doch er liegt auf dem Bug des Bootes und kann die Leine nicht lösen. Er lässt sich verunsichern, vom Meer, von der Zeit und von mir. Seine Haare sind nass und nicht mehr zerzaust. Ich setze die Sonnenbrille ab. Die nächste Welle schlägt ihm ins Gesicht. Ich lache nicht. Er sieht mich an und zieht sein T-Shirt aus. Noch acht Minuten. Ich gehe zurück zum Haus.

Am letzten Tag sitze ich auf einer der Liegen, lese und gebe weitere zehn Sekunden für einen Blick. Langsam kommt er von rechts auf mich zu. Hi, sagt er und bleibt vor mir stehen. Ich weiß jetzt, was er meint, und schaue zu ihm hoch. Kein Wind mehr, der unsere Zeit stiehlt. Nur eine glatte Fläche in rotem Licht. Fremd, zerzaust und aus der Nähe ist er mir ähnlicher als vermutet. Nichts blendet mich, und noch immer möchte ich schwimmen mit ihm. Uns bleiben fünf Minuten. Wir sehen uns an. Fragen uns, woher wir kommen und wie viel Zeit noch ist. In letzter Minute setzt er sich neben mich. Er möchte eine rauchen. Er kramt nach dem Feuerzeug. Ein Junge ruft. Der Zerzauste antwortet. Ich verstehe: Kommen. Wind. Kaputt. Der Zerzauste steht auf. Streicht sich die Strähne hinters Ohr. Maybe, sagt er ohne zu lächeln und schaut mich an, maybe, I’ll see you tomorrow.

Fotohinweis: KATJA HILLE, geb. 1963, lebt als Autorin, Lektorin und Theaterpädagogin in Berlin.