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Archiv-Artikel

600 Stunden Körperkontakt

Zahlreiche Studien belegen, dass Stillen sowohl für die Kinder als auch deren Mütter gesund ist. Doch noch immer legen viele Frauen ihr Baby allenfalls für kurze Zeit an die Brust. Die „Weltstillwoche“ will deshalb auch in Bremen die Stillkultur stärken

Kinder, die Muttermilch bekommen, werden später seltener krank. Und: Mütter die stillen, auch. Darauf weisen der Bundesverband der Frauenärzte (BVF) und die Nationale Stillkommission anlässlich der Internationalen Stillwoche vom 27. September bis 3. Oktober hin. 120 Länder beteiligen sich an dieser Aktion, die von zahlreichen Initiativen getragen wird, die sich für das Stillen aussprechen.

Gestillte Kinder hätten in ihrem späteren Leben nicht nur weniger Allergien, sondern litten auch seltener an Übergewicht, so Maria Lange-Fürst vom BVF. Es gibt sogar Studien, die nahelegen, dass langes Stillen intelligenter macht. So wollen britische Wissenschaftler herausgefunden haben, dass die geistige Auffassungsgabe bei Kindern, die nur für kurze Zeit Muttermilch erhielten, geringer ausgeprägt ist als bei solchen, die mindestens sechs Monate gestillt wurden. Junge Mütter profitieren ebenfalls vom Stillen, betont das BVF, weil so der Gefahr von Infektionen oder starken Blutungen vorgebeugt, das Risko, an Brust- oder Eierstockkrebs zu erkranken, gemindert werde. Zudem schwänden mit dem Stillen auch die überflüssigen Pfunde nach der Schwangerschaft.

„Muttermilch ist die natürlichste Ernährung der Welt“, bestätigt Joanna Simm, langjährige Vorsitzende des Landeshebammenverbandes in Bremen. „Sie ist steril, steht jederzeit zur Verfügung und hat immer die ideale Zusammensetzung“. Für den BVF zählt – laut Presseerklärung – ebenfalls zu den Vorteilen, dass sie auch noch „attraktiv verpackt“ sei.

Zwar legen fast alle Mütter ihr Kind unmittelbar nach der Geburt an die Brust. Doch sobald die Mütter wieder zu Hause sind, erzählt Simm, nimmt der Anteil der stillenden Frauen rapide ab. Und nach sechs Monaten, hat der BVF untersucht, bleiben gerade noch 13 Prozent. Gleichzeitig empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation mindestens ein halbes Jahr ausschließlich und bis zum zweiten Lebensjahr zumindest auch Muttermilch zu verabreichen.

„Dabei entsteht eine innige Bindung zwischen Mutter und Kind“ wirbt Simm, heute Leiterin des Eltern-Zentrums im Klinikum Bremen-Nord, einer Anlauf- und Beratungsstelle für werdende oder frisch gebackene Eltern. Wer nicht gestillt werde, dem fehlten schon nach den ersten sechs Lebensmonaten 600 Stunden Körperkontakt. Auch das Sozialverhalten präge sich an der Mutterbrust aus.

Außerdem gebe es auch handfeste finanzielle Gründe fürs Stillen: Säuglingsnahrung, sagt Simm, koste rund 500 Euro pro Jahr. Außerdem: Stillen schont die Umwelt. Gläser mit Brei müssen nicht nur produziert, befüllt und bedruckt, sondern auch in Supermärkte und von dort wieder weggefahren werden. Das alles belastet – direkt oder indirekt – die Umwelt mit Schadstoffen.

Allerdings: „Wir wollen kein Dogma aufstellen“, betont Simm im Namen der Bremer Veranstalter der Stillwoche. „Wir wollen Frauen, die für sich entschieden haben, nicht zu stillen, keinesfalls an den Pranger stellen.“ Jede Frau habe ein Recht zu stillen – oder eben nicht. Schließlich gebe es auch Frauen, die, aus welchem Grund auch immer, kein positives Verhältnis zu ihrem Körper hätten. Anderen sei das Kind an der Brust schlicht „zu nah“. Oder aber sie fühlten sich in ihrem Selbstbestimmungsrecht verletzt.

Außerdem habe Deutschland gar keine „echte Stillkultur“, sagt Simm. Viele der heute 30- bis 40-jährigen Frauen seien selbst „Flaschenkinder“. Somit fehle es ihnen nicht nur an eigener Erfahrung, sondern auch an Unterstützung vom Vater des Kindes, den eigenen Eltern oder FreundInnen. Mütter hätten oft nicht das Selbstbewusstsein, auch außerhalb der eigenen vier Wände ihr Kind an die Brust zu legen. „In Schweden ist es ganz normal, dass Mütter ihre Kinder im Restaurant stillen, währenddessen eben auch die Erwachsenen essen und trinken. Bei uns ist das eine echte Seltenheit“ sagt Simm. Dabei könne man beim Stillen fast überall seine Intimität bewahren.

Problemen sehen sich viele stillende Mütter aber nicht nur

in der Öffentlichkeit, sondern auch am Arbeitsplatz ausgesetzt. Zwar steht ihnen laut Mutterschutzgesetz pro Tag eine Stunde zu, in der sie sich zum Stillen zurückziehen können. Häufig wissen jedoch weder Arbeitgeber noch Mütter um dieses Recht. Und: Wer bringt ihnen ihr Kind zum Stillen in den Betrieb?

Jan Zier