Bis an den Rand der Selbstauflösung
Ist der Prozess des Schreibens tatsächlich der Kampf gegen die Kunst des Vergessens, die zum Leben so sehr gehört wie die Schwermut zum Tod? „Campo Santo“ versammelt Prosafragmente, Essays und Reden aus dem Nachlass von W. G. Sebald
von OLIVER PFOHLMANN
Vor zwei Jahren, als „Austerlitz“ erschien, konnten sich erstmals Zweifel regen. Keine Frage, dass sich W. G. Sebald mit diesem Roman selbst übertroffen, dass er sein „Meisterwerk“, wie es überall hieß, vorgelegt hatte. Und doch: War „Austerlitz“ nicht zu perfekt geraten, um noch „echt“ zu sein? Hatte der mit jedem neuen Buch erfolgreicher gewordene Melancholiker diesmal die Grenze zum Manierismus, zur „Mache“ mehr als nur gestreift?
Wer einem Autor wirklich verfallen ist, mag da plötzlich Angst verspüren, Angst vor dem nächsten Buch. Wenig später sorgte ein Autounfall dafür, dass die Frage, wie es weitergegangen wäre, ohne Antwort blieb. Auch der jetzt von Sven Mayer aus dem Nachlass zusammengestellte Band mit dem Titel „Campo Santo“ liefert dazu keine Hinweise. Denn bei den Fragmenten, die den ersten Teil ausmachen, handelt es sich keineswegs um „Kapitel jenes neuen großen Prosawerks, an dem Sebald in seinen letzten Monaten arbeitete“, wie die Verlagswerbung verspricht. Sondern um bereits verstreut publizierte Teile eines älteren, schon 1996 aufgegebenen Projekts, eines Buches über Korsika.
Mögen sich dem Autor jene haarsträubenden, schönschrecklichen Erlebnisse, unheimlichen Entdeckungen und profanen Epiphanien, die dem Icherzähler während eines „zweiwöchigen Ferienaufenthalts“ auf der Mittelmeerinsel widerfahren, auch nicht zu einem Ganzen gefügt haben: Großartig zu lesen, wie letzte Grüße an seine Leser, sind sie doch. Der Anblick einer schlummernden Kassiererin in der Casa Bonaparte etwa kann plötzlich die Zeit stillstehen lassen. Ein Ausflug ins einst dicht bewaldete Inselinnere endet mit dem erhabenen Anblick einer einsamen weißen Yacht, einer Art Todesfähre, vor einer flammendroten Felsformation. Und die Titelgeschichte, die am Ende unvermutet ins Fantastische kippt und von den sozusagen todernst berichteten Begegnungen Sebalds mit Gespenstern zu einer apokalyptischen Vision von einer „gedächtnislosen Gegenwart“ führt, nimmt den Besuch eines Friedhofes zum Anlass für abgründige Erkundungen der korsischen Trauerrituale. Wie die etwas zweifelhafte Tradition der Klageweiber, die sich vor blindem Schmerz ihre Gesichter zerkratzen, aber dabei keine einzige Träne vergießen.
Jedoch besteht, glaubt der Erzähler, „kein Widerspruch zwischen dieser Art von Berechnung und einer echten, tatsächlich bis an den Rand der Selbstauflösung gehenden Verzweiflung, denn das Schwanken zwischen dem einem Erstickungsanfall gleichenden Ausdruck zutiefst empfundener Seelenschmerzen und einer auf ästhetische Modulationen bedachten, geradezu durchtriebenen, um nicht zu sagen abgefeimten Manipulation des Publikums, vor dem wir unsere Leiden ausstellen, ist ja, auf sämtlichen Stufen der Zivilisation, das wohl bezeichnendste Merkmal unserer verstörten, an sich selber irre gewordenen Art.“ Das ließe sich auch als ein bitter ironischer Kommentar aufs eigene, gelegentlich etwas fragwürdig scheinende Tun, das Schreiben, lesen.
Wozu Literatur? Um diese Frage kreisen auch die Arbeiten des Germanisten Sebald. Der zweite Teil des Buches sammelt eine Reihe seiner Aufsätze, Essays, Reden und Rezensionen. Aus den empathischen Auseinandersetzungen mit Alexander Kluge, Jean Améry, Vladimir Nabokov oder Wolfgang Hildesheimer leitet Sebald Vorgaben ab für eine eigene, „dokumentarische“ Ästhetik, die von Beginn an um die Themen Zerstörung, Trauer und Erinnerung kreist. Denkbar fern stehen diese Studien daher jenen „verbohrten Untersuchungen“ seiner Kollegen, die „regelmäßig umschlagen in eine Travestie von Wissenschaft“.
Was nicht zuletzt auch an ihren sprachlichen Qualitäten liegt. Der unverwechselbare Sebald-Sound, der die Grenze zwischen Literatur und Wissenschaft so eindrucksvoll aufhebt, er war, wie eine frühe Arbeit über Peter Handke belegt, bereits Mitte der Siebzigerjahre hörbar. Und schon seit den Achtzigern machte Sebald der Nachkriegsliteratur, vor allem der Gruppe 47, den Prozess. Jener Vorwurf, der Ende der Neunziger für eine heftige Debatte sorgte, die deutsche Literatur hätte vor dem Luftkrieg moralisch wie ästhetisch versagt, findet sich bereits in einem Aufsatz von 1982, der weite Teile der späteren Züricher Vorlesungen vorformuliert.
Wozu also Literatur? „Der Prozess des Schreibens“, heißt es in einem Essay über Peter Weiss, ist der „Kampf gegen die Kunst des Vergessens, die zum Leben so sehr gehört wie die Schwermut zum Tod“. Eine, genau genommen, ungeheuerliche Behauptung: Setzt Leben notwendig Vergessen voraus, wäre Literatur, indem ihr die Aufgabe der Erinnerung, der Restitution zukommt, tendenziell lebensfeindlich. Stünde also auf der Seite des Todes und nicht, wie einst Nietzsche es wollte, im Dienst des Lebens.
Ist dies der Ursprung für das immer wiederkehrende Begehren nach Selbstauflösung, die, wie es scheint, Todessehnsucht in Sebalds Texten? „Gerade die Melancholie“, schreibt Sebald jedoch sibyllinisch, „paktiert nicht mit dem Tod, denn sie kennt ihn als einer trüben Wirklichkeit trübster Vertreter und befasst sich darum (…) mit der Spekulation, ob dem Tod nicht vielleicht durch eine Invasion seines eigenen Territoriums beizukommen ist“. Literatur, zumal die W. G. Sebalds, ist wohl doch mehr als „pure, bisweilen allerdings bis auf den Punkt des Todes gehende Schauspielerei“.
W. G. Sebald: „Campo Santo“. Herausgegeben von Sven Mayer. Hanser Verlag, München 2003, 267 Seiten, 19,90 €