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Archiv-Artikel

Für die Wahl nicht hilfreich

Der Kanzler muss sich für seine Worte über die Raffgier der Deutschen weiter beschimpfen lassen. Doch das fragliche Interview hat er schon vor Wochen gegeben – lange vor der jüngsten Ost-Debatte

AUS BERLIN ULRIKE HERRMANN

Gerhard Schröder bekam am Wochenende gute Tipps von allen Seiten. „Anstatt die Menschen einseitig zu beschimpfen, sollten der Bundeskanzler und seine Regierung ihre Arbeit endlich ordentlich machen“, riet etwa CDU-Chefin Angela Merkel. Der SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz meinte, „Volksbeschimpfung hilft uns nicht weiter“. Und CSU-Generalsekretär Markus Söder forderte gar, Schröder müsse sich bei den Deutschen entschuldigen.

In einem Interview mit der Zeitschrift Guter Rat hatte der Kanzler am Freitag dekretiert: „Es gibt in Ost wie West eine Mentalität bis weit in die Mittelschicht hinein, dass man staatliche Leistungen mitnimmt, wo man sie kriegen kann, auch wenn es eigentlich ein ausreichendes Arbeitseinkommen in der Familie gibt. Diese Haltung aber kann sich auf Dauer kein Sozialstaat leisten, ohne daran zugrunde zu gehen.“

Das sieht nicht nur der Kanzler so. Neben Kritikern meldeten sich am Wochenende auch Unterstützer. So meinte etwa der SPD-Wirtschaftsexperte Rainer Wend: „Der Kanzler beschreibt einen Zustand in allen gesellschaftlichen Schichten.“ Auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun, befand: „Der Kanzler hat Recht.“

Die Resonanz ist also groß. Aber war sie auch gewollt? Der SPD-Linken Andrea Nahles jedenfalls ist unerklärlich, dass sich Schröder ausgerechnet vor den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen über die Mitnahmementalität der Deutschen beschweren musste. „Gerade in Ostdeutschland ist die Quote der Transferleistungen besonders hoch und die Zahl der offenen Stellen besonders gering.“ Nahles kann sich nicht vorstellen, dass Schröders Äußerungen hilfreich waren.

Auch sonst wirkt das Interview nicht, als sei es vom Kanzleramt besonders sorgfältig platziert worden. Das beginnt schon mit dem redaktionellen Umfeld. Ausgerechnet jenes Heft, in dem sich Schröder über die deutsche Raffgier beschwert, wirbt mit dem Titelslogan „Holen Sie sich alles, was Ihnen zusteht – 22-mal Geld vom Staat“. Die Tipps selbst sind allerdings unspektakulär. Sie zählen brav die staatlichen Fördermöglichkeiten wie Eigenheimzulage, Entfernungspauschale oder Kindergeld auf.

Sorglos war das Kanzleramt wohl auch, weil Schröder gar nichts Neues gesagt hat. Er wiederholte einfach – und zwar wortgleich –, was er schon zwei Wochen zuvor in der Super Illu behauptet hatte. Es überrascht daher nicht, dass des Kanzlers Pressesprecher Béla Anda sehr überrascht war, als plötzlich eine bundesweite Debatte losbrach.

Die Sensibilitäten sind offenbar gestiegen, seitdem sich Bundespräsident Horst Köhler – ebenfalls in einem Interview – zu den ungleichen Lebensverhältnissen in Deutschland geäußert hatte. Allerdings hätte Schröder seine Ausführungen im Guten Rat sowieso nicht mehr korrigieren können. Die Produktionsfristen betragen dort drei Wochen.

Zudem ist fraglich, ob der Kanzler die Debatte überhaupt gescheut hätte. Seit dem Sommer gastiert er in einer neuen Rolle. Als unerschütterlicher Gewissenspolitiker, der zutiefst überzeugt ist, dass der Sozialstaat reduziert werden muss.

Aber welcher Sozialstaat? Wo findet am meisten Missbrauch statt? Genaue Zahlen gibt es nicht, nur Einzelerkenntnisse. So wurde die Eigenheimförderung von den Finanzämtern 2002 und 2003 verstärkt kontrolliert. „30 Prozent der Anträge waren manipuliert“, berichtet der Vorsitzende der deutschen Steuergewerkschaft, Dieter Ondracek. Der Schaden für die Staatskassen geht in die Milliarden.

Auch bei der Sozialhilfe gibt es Missbrauch. 7 von 100 Beziehern hätten eigentlich keinen Anspruch. Das belastet die Staatskassen jährlich mit 150 Millionen Euro, hat die Caritas errechnet. Dennoch sparen die Steuerzahler insgesamt mehr als 2 Milliarden Euro. Wie der Armutsbericht der Bundesregierung ausweist, wagt sich jeder zweite Bedürftige nicht zum Sozialamt. Weil er sich schämt.