„eigene mehrheit“
: Angst vor einer großen Koalition

Jetzt scheint sie also gesichert, die „eigene Mehrheit“ von Rot-Grün bei der Reform-Abstimmung am Freitag im Bundestag. Nur bei einer Frage gibt es noch Verwirrung: Was ist das eigentlich, die „eigene Mehrheit“? Jedenfalls nicht die „Kanzlermehrheit“ von mindestens 302 Abgeordneten – so hoch wollen die SPD-Strategen ihre Messlatte lieber nicht hängen. Die Sprachregelung besteht in einem mehrfachen „hätte“ und „würde“: SPD und Grüne wollen so viele Stimmen mobilisieren, dass sie auch dann eine Mehrheit hätten, wenn die Opposition geschlossen gegen die Reformprojekte stimmen würde.

Kommentar von RALPH BOLLMANN

Das schien sie aber gar nicht zu wollen. Die FDP hatte zu jenem Zeitpunkt angekündigt, die Hartz-Gesetze durchzuwinken. Wie aber verhalten sich die Parlamentarier aller Fraktionen, wenn es keine Zustimmung aus der Opposition gibt? Diese Frage ist erst seit gestern wieder seriös zu beantworten, seit Schröder den parteiinternen Kritikern entgegengekommen ist.

Dazu also der ganze Aufwand mit den sechs so genannten Abweichlern um Ottmar Schreiner, dazu der gestern geschlossene Kompromiss nach mühsamen Verhandlungen, die es offiziell gar nicht geben durfte: Gerade weil die Reformpolitik informell längst auf die Gleise einer großen Koalition eingebogen ist, will Rot-Grün vor aller Augen demonstrieren, dass es diese Regierung tatsächlich noch gibt.

Dass die Fronten im Reformstreit längst quer zu den Parteilinien verlaufen, war noch nie so offensichtlich wie in diesen Tagen. In den beiden Volksparteien Union und SPD liegen Reformer und Bewahrer gleichermaßen im Clinch, und bei den elitären Parteien FDP und Grüne ist lediglich der Bewahrerflügel kleiner. Bestünde kein Fraktionszwang und keine Trennung in Regierung und Opposition – es gäbe parteiübergreifend eine große Mehrheit für mehr oder weniger tiefe Schnitte ins soziale Netz.

So gesehen können die renitenten Abgeordneten vom linken SPD-Flügel dem Kanzler und seinen Polarisierungskünsten sogar dankbar sein. Ohne Schröders Beharren auf dem Konstrukt der „eigenen Mehrheit“ wären sie nie in eine Verhandlungsposition gelangt, die letzten Änderungen bei den Hartz-Gesetzen zu erreichen. Jetzt wird die Opposition nicht mehr gebraucht, und prompt stellt die FDP ihre Zustimmung in Frage. Damit sind die Fronten wieder so klar wie in alten Zeiten – bis sich die Kontrahenten aus Bundestag und Bundesrat im Vermittlungsausschuss wiedersehen.