: Haste mal ein Blättchen?
Zigaretten schnorren gehört sich nicht mehr. Weil jeder lieber Schmarotzer als Wirt sein möchte, wird längst abstrakt geschnorrt: Der Wirt Wirtschaft verdient daran, die Zeche zahlt bislang der Staat
VON MARTIN REICHERT
Die Daily Talkshow „Bundesrepublik Deutschland“ hatte letzte Woche mal wieder ein Knüller-Thema: „Triumph der Schmarotzer“. Dauertalkgast Gerhard Schröder hatte gesagt: „In Ost wie in West gibt es eine Mentalität bis weit in die Mittelschicht hinein, dass man staatliche Leistungen mitnimmt, wo man sie kriegen kann.“ Woraufhin Angela Merkel von der Zuschauertribüne aus schrie: „Geh doch mal arbeiten!“ („Der Bundeskanzler und seine Regierung sollen endlich mal ihre Arbeit machen“). Der Präsident des Steuerzahlerbundes, Karl Heinz Däke, brüllte: „Ey, kuck dich doch mal an!“ („Schröder soll bei seiner Bürgerschelte die Politiker nicht vergessen“), und Guido Westerwelle erinnerte an Florida-Rolf und Viagra-Kalle.
Die Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen der Republik saßen derweil zu Hause und fühlten sich beleidigt, denn Schnorrer und Schmarotzer, das sind immer nur die anderen. Das fanden auch die vermeintlichen Wirtstiere, also die arbeitenden Bürger, die keine Zeit für tägliche Talkshows haben und sich daher nicht angesprochen fühlten.
Dabei müssten sich alle mal an die eigene Mitesser-Nase fassen. Zur Gruppe der Schmarotzer, alternativ: der zweihändigen Faulsäcke, gehört mitterweile das ganze Land, bloß Wirtstier will keiner mehr sein.
So ist der über Jahrzehnte gängige Brauch des „Haste mal ne Zigarette“-Schnorrens vom Aussterben bedroht, er gilt als nicht mehr salonfähig und wird nur noch von Punks praktiziert. Zigaretten sind einfach zu teuer geworden – und Freigiebigkeit, ehemals ein konsensualer Wert vor allem in linken Kreisen, ist endgültig dem Max Weber’schen Postulat von der Monetarisierung zwischenmenschlicher Werte zum Opfer gefallen: Diese Zigarette kriege ich doch niemals zurück, und ein genuscheltes „Danke“ erscheint nicht als adäquater Gegenwert für den teuren Glimmstängel. „Wer gibt mir denn?“ Selbstlosigkeit ist was für Mutter Teresa, und die lebt nicht mehr. Außerdem hat sie ja schließlich einen Platz im Himmelreich bekommen, als Gegenwert.
Während das Schnorren im zwischenmenschlichen Bereich zunehmend auf Ablehnung stößt, hat das abstrakte Schnorren und Schmarotzen schon lange Konjunktur. Unter dem Schlachtruf „Geiz ist geil“ werden die „All you can eat“-Buffets dieser Republik gestürmt, bis der Hosenknopf abplatzt. Generell hat sich das Ausgehverhalten verändert: Ins Kino nur dienstags (Kinotag) und mit versteckten Bierdosen im Rucksack, ins Schwimmbad nur nach 20 Uhr (Mondscheintarif), Cocktails um 19 Uhr (Happy Hour) und in die Disco grundsätzlich vor Mitternacht, weil es da keinen Eintritt kostet. Wenn in Deutschland Coffee-Refill üblich wäre wie in den Vereinigten Staaten, würde dieses Volk wahrscheinlich an kollektivem Herzinfarkt zu Grunde gehen.
Die Schnäppchen-Hatz schädigt zwar letztendlich durchaus die Wirtschaft, wird aber mit gutem Gewissen vollzogen: Man weiß ja, dass es sich für die Wirtschaft trotz allem irgendwie rechnet, denn sonst würden sie es ja nicht machen. Problem: Der Staat, neben der Wirtschaft zweites Opfer der kollektiven Schnäppchen-Schnorrer-Offensive, kann nicht so gut rechnen. Die Idee des Sozialstaates war ursprünglich auch mit dem Solidaritätsgedanken verknüpft, hatte etwas mit Lastenausgleich zu tun, und auch mit Freigiebigkeit: Wer hat, kann auch abgeben. Davon übrig geblieben ist: „Denen stopf ich meine Kohle bestimmt nicht in den Rachen“ und „Ich habe ja auch einbezahlt“ oder „ich zahle ja auch Steuern“. Gerhard Schröder hat dies als „Mitnahme-Mentalität“ bezeichnet. Der Staat ist jedoch nicht Rudis Resterampe oder Ikea, er offeriert keine Schnäppchen, weil sie sich am Ende rechnen.
In der Natur veranstalten Parasiten und Wirte eine Art evolutionäres Wettrüsten: sie entwickeln sich gegenseitig ständig weiter. Derzeit erklimmt der Wirt, also der Staat, die nächste Stufe. Auch eine Lesart der Agenda 2010.