: Untypischer Kopftuchstreit in Paris
Zwei Mädchen aus einer linken und laizistischen Familie fliegen von der Schule, weil sie sich bedecken. Ein Kompromissangebot lehnen sie ab. Eine von Präsident Chirac eingesetzte Kommission prüft den geltenden Ermessensspielraum der Schulleiter
aus Paris DOROTHEA HAHN
Nichts hat die Schwestern Alma und Lila dafür prädestiniert, in das Zentrum eines „religiösen“ Streites zu rücken. Sie stammen aus einer Familie, in der die Erwachsenen nicht religiös, politisch links und gewerkschaftlich aktiv sind und an die Trennung von Staat und Religion glauben. Doch Anfang des neuen Schuljahres kamen die 16- und die 18-Jährige mit einem Kopftuch bedeckt zu ihrem Lyzeum Henri Wallon in der Pariser Vorstadt Aubervilliers. Weil sie sich weigerten, das Stück Stoff abzulegen, sind sie inzwischen von der Schule ausgeschlossen worden.
Ersatzweise öffneten sich den beiden jungen Frauen die Tore zu den Medien. Montagabend erklärten sie in dem bei Jugendlichen beliebten Pay-TV-Sender Canal+, warum sie ihre Köpfe bedecken: „Religiöse Überzeugung. Und Schamgefühl.“
Der Vater von Alma und Lila ist Rechtsanwalt. Er stammt aus einer jüdischen Familie, praktiziert jedoch keine Religion und nennt das, was seine Töchter jetzt treiben, seinen „schlimmsten Albtraum“. Dennoch verlangt Laurent Lévy „Toleranz“ für die beiden. Begründung: Sie betrieben keinen „Proselytismus“ in der Schule, wollten also niemanden bekehren, sondern lebten lediglich ihren persönlichen Glauben. Die Mutter der Mädchen stammt aus einer algerischen Berber-Familie, wurde als Kind getauft, arbeitet als Wirtschaftsprofessorin und praktiziert ebenfalls keine Religion. „Eure Vorfahren würden sich im Grab herumdrehen, wenn sie euch sähen“, hat Mina Lévy als Erstes gesagt, als sie ihre Töchter mit Kopftüchern sah. Und: „Ihr seht aus wie Ostereier.“
Die beiden Mädchen haben der Zeitung Le Monde erzählt, dass sie noch nicht viel über den Islam wissen. Arabisch können sie nicht. Die wenigen Koranverse, die sie kennen, haben sie hier und dort zusammengesucht.
Der Familienstreit aus der Pariser Vorstadt hat dem Lyzeum in Aubervilliers zu einer nationalen Bekanntheit verholfen, die der Schulleiter lieber vermieden hätte. Als Erstes hat er versucht, Vermittlungsgespräche mit den Schwestern und den anderen Schülerinnen zu führen, die mit einem Kopftuch aus den Sommerferien zurückkamen. Wie in solchen Fällen in Frankreich üblich, schlug er unter anderem vor, statt der großen Kopftücher die deutlich diskreteren „bandanas“ zu tragen – um den Kopf geschlungene Bänder, die den Hinterkopf und die Ohren frei lassen. Mehrere Schülerinnen nahmen das Angebot an. Lila und Alma jedoch lehnten ab.
In der französischen Debatte um das Tuch sind die beiden untypisch. Die meisten anderen Mädchen, die irgendwann mit Kopftüchern am Schultor auftauchen, stammen aus muslimischen Familien. Die Schulen reagieren unterschiedlich. In manchen Fällen lassen sie Kopftücher zu. In anderen Fällen erteilen sie Schulverbot. Alljährlich kommt das nach Auskunft von Erziehungsminister Luc Ferry „rund zehnmal“ vor.
Der Ermessensspielraum der Schulleiter ist das Resultat einer Entscheidung des französischen Staatsrates aus dem Jahr 1989. Vor dem Hintergrund eines „Kopftuchstreites“ legte er fest, dass „ostentative religiöse Zeichen“, die im Zweifelsfall propagandistischen beziehungsweise missionarischen Zielen dienen, nicht in die staatliche Schule gehören. Aus persönlicher Überzeugung hingegen dürfen sie getragen werden.
Vielen sind diese Regeln zu vage. Vor allem Schulleiter verlangen nach einem Gesetz, das alle religiösen Zeichen an der Schule eindeutig verbietet. Auf der anderen Seite stehen Politiker, aber auch Menschenrechtsorganisationen, die zwar gegen das Kopftuch an der Schule sind, zugleich aber davor warnen, ein Gesetz zu machen, das die Ausgrenzung in den Vorstädten und die Ghettoisierung nur noch weiter verschärft.
Im Juli beauftragte Staatspräsident Jacques Chirac eine Kommission mit einem Bericht über die Laizität – die Trennung von Staat und Religion, die in Frankreich Verfassungsrang hat. Unter anderem soll die Kommission klären, ob ein neues Gesetz, ein Erlass oder einfach eine Bestätigung der Entscheidung von 1989 sinnvoll wären.