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Archiv-Artikel

Die Weltreisenden aus dem Wedding

Als Bäuerin ist Renate Amine erdverbunden. Als Werbefachfrau denkt sie lebensnah, als Weltreisende ist sie eine lebenslang Lernende. Zusammen mit ihrem Mann Boukar betreibt sie im Tschad nun eine Schule und Entwicklungshilfe von unten

Die Armut der Frauen und Kinder hat mich geschockt – weil ich das miterlebt habe

VON WALTRAUD SCHWAB

Renate Amine ist tätig. Sie handelt. Tut. Das klingt einfach, aber die 60-jährige blonde Frau will das Schwere im Leichten bewältigen, um weiter zu gehen. „Weiter gehen!“ – das ist ihre Maxime. Für sie bedeutet es: „Weiter kommen!“ Aber wenn sie spricht, klingt es simpler. So etwa: „Ich finde immer einen Weg.“

Handeln und Gehen – im Sinne dieser Wörter legt sie große Entfernungen zurück. Das spürt sie nicht so. „Distanz ist vor allem eine Frage des Herzens“, sagt sie. Bald wird die Berlinerin sich aufmachen, um im Tschad zu leben. „Ich habe immer gesagt, dass ich mich um meine Rente nicht kümmern muss, weil ich in den Busch gehe“, erzählt sie. In ein paar Jahren sei es soweit.

Ein Spleen ist das nicht. Amine und ihr Mann haben bereits ein Haus im Tschad gebaut, 20 Kilometer von der Hauptstadt Ndjamena entfernt. „Was man halt so Haus nennt. Ohne Wasseranschluss, ohne Strom“, erzählt sie. Derzeit jedoch leben die beiden noch in einer kleinen Wohnung voll afrikanischer Souvenirs in Berlin. Genauer: in der Transvaalstraße. „Netter Zufall, der Straßennamen“, sagt sie, es hat schon was von zukünftiger Heimatverbundenheit.

Gemeint ist eine andere Art von Heimatverbundenheit als jene, die dazu führte, dass es im Wedding ein „Afrikanisches Viertel“ gibt, wo Straßen nach Transvaal und Kamerun, Guinea und Sansibar, Samoa und Togo benannt sind. Über 100 Jahre ist das her, als die preußische Obrigkeit den Berlinern und Berlinerinnen so die Größe des Deutschen Reiches nahe bringen wollte. Nun gut, der Tschad, wo es Amine hinzieht, gehörte nicht dazu. Dort saßen die Franzosen.

Marokkanischen Tee bietet die Frau in ihrer kleinen Küche an. Während sie neben dem Wasserkessel steht und wartet, dass er kocht, beginnt sie von ihren Reisen zu erzählen: in die Türkei, die arabischen Länder, Indien. „Erst Afrika hat mich festgehalten.“ Aber Afrika kommt später, zuerst bleiben ihre Erinnerungen an Indien hängen. „Ich habe mit den Leuten auf der Straße gelebt“, sagt sie. Wie gelebt? „Ich bin mit ihnen mitgezogen.“ Mit ganzen Familien, die ohne Dach überm Kopf waren. „Ich wollte das wissen, das sehen.“ Sie schüttet den Tee in die Kanne und kocht ihn noch einmal auf. „Die Armut der Frauen und Kinder hat mich geschockt. Ich war einiges gewohnt, aber das hat mich geschockt, weil ich das richtig miterlebt habe.“ Anders als die Einheimischen ist sie zwischendurch auch mal in die Luxushotels gegangen, um sich zu duschen, auszuruhen. Ein Hippie war sie nicht. Wieder in Deutschland, wo sie in der Werbung arbeitete und mitunter viel Geld verdiente, begann sie, sich bei der Kindernothilfe zu engagieren.

Mit der größten Selbstverständlichkeit ist Amine eine Weltreisende. Eine Ideologie braucht sie dazu nicht. Auch kein Abitur, kein Studium. „Ich bin vom Land.“ Nach der Volkshochschule geht sie als Au-Pair nach England. Sprachen fallen ihr leicht. Zurück in Deutschland arbeitet sie als Übersetzerin für den englischen Geheimdienst. „Was kommt, was geht“, sagt sie.

Frankreich, die Mitarbeit an Beckett-Übersetzungen, eine Ehe sind die nächsten Stationen. Kinder will sie keine. Als Älteste von sechs, war ihr Soll an Babypflege aufgebraucht. Ihre Geschwister sind viel jünger. Sie kamen erst zur Welt, nachdem ihr Vater Mitte der 50er-Jahre aus sibirischer Gefangenschaft zurückkehrte. Davor war sie, das wilde Kind, allein.

Neun Jahre hält sie die Ehe durch. Dann geht sie. Sie kann nicht erklären, was sie immer wegzieht. „Ich gehe einfach.“ Diesmal in die Türkei aufs Land. Sie lernt die Sprache, arbeitet auf den Feldern. Dann stirbt ihr Vater. Sie kehrt in ihr Heimatdorf zurück, hilft ihrer Mutter und macht den Bauernhof. „Ich habe immer gearbeitet. Durch Arbeit ist man nah dran.“

Nachdem ihr Bruder den Hof übernimmt, geht sie Anfang der 80er-Jahre wieder nach Berlin, jobbt als Werbefachfrau, reist nach Indien, kommt zurück, reibt sich mit den Armutslinderungsorganisationen, verliebt sich in einen Marokkaner. Nichts wird daraus. Er geht mit einer anderen weg; sie zieht es nach Mali.

Dort lebt sie eine Weile in einem Dorf am Niger. Dioro heißt es. „Ich leb da einfach. Ich bin auch unvorsichtig; esse, was die Leute essen, trinke das Wasser, das sie trinken.“ Sie lernt die Frauen von der Dorfkooperative kennen und beschließt, in Berlin eine eigene Organisation zu gründen, um sie zu unterstützen.

„Al Samar“ heißt der Verein. Das bedeute sowas wie: Freude, Tanzen. In ihrem Bekanntenkreis findet Amine die Mitglieder. So eine ist sie. „Komm, mitmachen“, sagt sie und lacht und winkt die Leute, die sie kennen lernt, zu sich.

Ein paar Mal im Jahr organisiert sie Benefizveranstaltungen. Bald ist es wieder soweit. „Wie ein großes Familienfest ist das.“ Mit dem Erlös werden Projekte in Afrika finanziert. „Dort kann man mit wenig Geld viel machen.“ In Dioro unterstützt der Verein die Frauenkooperative mit Pumpen für die Bewässerung und Toiletten sowie einer Solaranlage für das Geburtshaus. Weil das Dorf verschuldet ist, was Amine nicht wusste, werden die Pumpen von der Regierung später abgebaut als Pfand.

„In Afrika gibt es andere Regeln.“ Amine akzeptiert das. Meistens jedenfalls. „Ich bin fremd da. Ich werde immer fremd bleiben. Wie Ausländer hier.“ Manchmal allerdings treibt sie das Fremde an ihre eigenen Grenzen: „Ich hab ne andere Art. Wenn manches nicht läuft, kommt das Deutsche durch. ‚Das muss doch laufen!‘ denke ich.“ Und, findet sie einen Weg? „Ja“, sagt sie, lacht und stellt dabei ein Tongefäß mit orientalischen Leckereien auf den Tisch. „Wenn nicht diesen, dann einen anderen.“ Diese Haltung gibt ihr etwas Leichtes. Auf das Gegenteil angesprochen, meint sie: „Ich kann zum Schweren nichts sagen. Das Leben meines Mannes ist schwer, aber wir suchen danach, wie es leicht wird.“

Leichtigkeit, die findet Amine im Tanz. Sie hat sich einiges abgeschaut in der Türkei, in Afrika. In einer Disco lernt sie Anfang der 90er-Jahre auch ihren Mann kennen. Eigentlich war Boukar Amine auf dem Weg von Frankreich, wo er für seine Doktorarbeit recherchierte, in die Ukraine. Berlin war ein Zwischenstopp. „Bisschen Geld verdienen.“ In Kiew hatte er studiert.

Manche Menschen stranden an Orten, werden hingespült wie Schiffbrüchige, wie Treibgut. Amine war geschockt, als er sich Ende der 70er-Jahre wegen der politischen Wirren im Tschad, wo er herkommt, plötzlich in der Ukraine wiederfand. Der Bürgerkrieg hatte sein Land ins Chaos gestürzt. Das Chaos hatte sich in seinem Leben fortgesetzt. Eine Zukunft sah er nirgends, nicht im Tschad, nicht in der Ukraine. So blieb er auf dem Weg von einer Fremde in die andere in Berlin hängen. Und dann fiel ihm die tanzende Frau ins Auge, ihr Lachen, die einladende Handbewegung. Nicht Sirene. Matrone auch nicht.

Renate Amine lernt 1994 – trotz der politischen Unwägbarkeiten – das Heimatdorf ihres Mannes, Malafing, kennen. Ungefähr 600 Menschen leben dort. „Eine Schule gab es nicht“, erzählt sie. Weil sie etwa 4.000 Mark dabei hatte, sagte sie zu ihrem Mann: „Wir bauen eine. Jetzt. Wir fangen an. Wir finanzieren den Lehrer.“ Letzterer bekommt 30 Euro im Monat plus Nahrungsmittel. Aus Landessicht ein passabler Lohn. Das Projekt wird ein Erfolg. Mehr und mehr Schüler und Schülerinnen, auch Erwachsene, kommen. Heute sind es 200. Mittlerweile finanziert der Verein „Al Samar“ einen zweiten Lehrer, der Staat hat die Schule offiziell anerkannt und stellt noch zwei Lehrkräfte.

Bei der nächsten Reise in Boukars Heimatdorf nehmen sich die Amines der hohen Säuglingssterblichkeit an. Es liege am verseuchten Wasser. Deshalb bauen sie einen Brunnen. Das führte inzwischen dazu, dass sich immer mehr Menschen, Christen und Leute, die Naturreligionen anhängen, um das ursprünglich muslimische Dorf herum ansiedeln. „Begimi“ heißt die Ethnie des Mannes. Beschneidung der Frauen ist nicht üblich, Polygamie schon.

Das jüngste Projekt: eine Krankenstation. Sie soll nun noch eingerichtet und dann dem Roten Kreuz des Tschad übergeben werden. Zudem arbeiten die Amines nach Wegen, wie sich die Dorfbewohner besser versorgen können. Hirse, Erdnüsse, Bohnen sind die Grundnahrungsmittel.

„Al Samar“ – Freude und Tanzen – die seien immer dabei. Der Verein stellt die private Entwicklungshilfe zwischen Berlin und Malafing auf eine juristische Grundlage. Renate Amines neuester Plan: Langfristig nicht mehr von Spenden und Zuschüssen abhängig sein. Vielmehr sollen die ökonomischen Grundlagen im Dorf so verbessert werden, dass die Projekte sich selbst tragen. Vielleicht wird es ihr gelingen, denn einen Traum hat die Frau noch: „Ich möchte, wenn ich alt bin, so eine Oma sein, die wie eine Matrone da sitzt und das, was sie hat, sinnvoll verteilen kann.“ Matrone also. Doch.

Benefiz-Veranstaltung zugunsten der Al-Samar-Krankenstation im Tschad mit orientalischem und afrikanischem Tanz und Buffet: So., 26. 9., 15 Uhr im Fontane-Haus, Wilhelmsruher Damm 142c, U-Bahn Wittenau, Bus 121, 153, 124 oder 321, Eintritt 10 Euro, Kinder frei