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Archiv-Artikel

Sexskandal auf der „Bounty“

Auf der Pazifikinsel Pitcairn, die von den Meuterern der „Bounty“ besiedelt wurde, steht jetzt in einem Sexualstrafprozess ein Siebtel der Bevölkerung vor Gericht

MELBOURNE taz ■ Auf der winzigen Pazifikinsel Pitcairn beginnt in dieser Woche ein außergewöhnlicher Sexualstrafprozess. Sieben der 47 Bewohner, und damit die Hälfte der arbeitsfähigen männlichen Bevölkerung, sowie 6 weitere im Ausland lebende Pitcairner sind in 96 Fällen der Vergewaltigung, des Inzests und sexuellen Missbrauchs Minderjähriger angeklagt. Die Taten liegen bis zu 40 Jahre zurück und wurden 1999 durch eine vorübergehend auf der Insel stationierte britische Polizistin aufgedeckt.

Die Bewohner der zwischen Tahiti und Peru im Pazifik gelegenen Insel sind Nachfahren der berühmten Meuterer des britischen Kriegsschiffs „HMS Bounty“ gegen ihren Kapitän William Bligh. Die Meuterer unter Fletcher Christian hatten sich 1790 durch Flucht nach Pitcairn einer britischen Bestrafung entzogen.

Der Prozess, für den eigens im Hauptort Adamstown ein Gericht gezimmert wurde, soll acht Wochen dauern. In den letzten Tagen sind 25 Richter, Ankläger, Anwälte, Gerichtsschreiber und Polizisten auf die Insel gerudert worden. Denn da Pitcairn weder Flugplatz noch Hafen hat, endete die 5.300 Kilometer lange Schiffsreise aus dem neuseeländischen Auckland vor der Insel. Ein Gericht hatte verfügt, dass der Prozess in Pitcairn stattfinden muss und nicht wie von den Briten gewünscht in Neuseeland.

Über 200 Jahre hatte sich London nicht um die 4,5 Quadratkilometer kleine Insel gekümmert. Londons jetziges Interesse an der Felseninsel sorgt für böses Blut. Die Bevölkerung ist gespalten in nationalistische Pitcairner und Pro-England-Verfechter. Der für Pitcairn zuständige britische Hochkommissar in Neuseeland hatte die Pitcairner aufgerufen, ihre Waffen abzugeben, um eventuellen Gewalttätigkeiten vorzubeugen. Doch nur wenige folgten dem Aufruf.

Pitcairns Bürgermeister Steve Christian warnt, der Prozess gefährde die Zukunft der Insel. Werden die Angeklagten verurteilt, würde sich dies verheerend auf die Produktionsfähigkeit der an arbeitsfähigen Männern armen Insel auswirken. Großbritannien und die EU gewährten Pitcairn gerade erst Wirtschaftshilfe, um den Bankrott der Insel zu verhindern.

In Pitcairn sind alle 47 Inselbewohner irgendwie miteinander verwandt. Das Sexualleben der Nachfahren der „Bounty“-Meuterer und ihren aus Tahiti mitgebrachten Gefährtinnen entwickelte sich außerhalb der britischen Moralvorstellungen und Rechtsnormen. Während in Großbritannien Sex mit Minderjährigen unter 16 Jahren strafbar ist, ist dies in Pitcairn verbreitet. Doch geht es nicht nur um Moralvorstellungen, westliches Strafrecht und Tradition, sondern auch um Pitcairns politische Zugehörigkeit. Für London gehört die Insel zu Großbritannien und untersteht daher der britischen Justiz.

Dies bestreiten die Rechtsanwälte der Angeklagten. Sie argumentieren, Großbritannien habe keine Souveränität über Pitcairn, da es Pitcairn nie besiedelt habe. Denn die Meuterer hätten sich durch die Verbrennung der „Bounty“ von Großbritannien losgesagt. Außerdem hätte London, nachdem die Meuterer auf Pitcairn Zuflucht gesucht hatten, nie versucht, seine Autorität auf der Insel durchzusetzen.

Tatsächlich gibt es eine Anordnung von Queen Victoria von 1856, die dem in Neuseeland amtierenden britischen Gouverneur auferlegte, die Pitcairner sich selbst zu überlassen und ihnen zu gestatten, sich selbst zu regieren, wie sie es bis dahin getan hatten. Eine Klage der Pitcairner vor dem Appellationsgericht, die feststellen sollte, dass sie keine britischen Untertanen sind und einen eigenen unabhängigen Staat bilden, wurde jedoch abgelehnt. Sie planen nun, als nächste Instanzen den britischen Staatsrat und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen.

Der britischen Admiralität war es nie gelungen, die „Bounty“-Meuterer aufzuspüren. Nach Ansicht einiger Pitcairner wolle London jetzt für die Meuterei an den Nachfahren der Rebellen Rache nehmen. BORIS B. BEHRSING