: Die Welt ist nicht genug
Die Globalisierung des Pop schreitet unaufhaltsam voran, die Musikwelt wird immer multipolarer. Damit lösen sich auch die Grenzen zwischen Mainstream-Pop und Weltmusik-Nische allmählich auf
VON DANIEL BAX
Auch der längste Sommerhit geht einmal zu Ende. Nach fast fünf Monaten, die sie ununterbrochen an der Spitze der deutschen Charts verbrachte, verabschiedete sich die moldawische Boyband O-Zone mit ihrem Dancefloor-Gassenhauer „Dragostea Din Tei“ Mitte September endlich von der Nummer eins. Verdrängt wurde sie durch eine mindestens ebenso obskure Latin-Band namens Aventura. Deren spanischer Titel „Obsesión“ beruht auf einem minimalistischen Bachata-Rhythmus, wie der Tanzstil von der Dominikanischen Republik genannt wird.
Die Staffelübergabe an der Spitze der deutschen Charts wirft nur ein Schlaglicht auf das, was längst unübersehbar ist: Die Globalisierung des Pop schreitet unaufhaltsam voran. Setzten früher britische und US-amerikanische Stars auch hierzulande den Ton, so hat sich die Situation inzwischen gewandelt. Das liegt nicht nur daran, dass die einstigen Supermächte der Popmusik, die USA und Großbritannien, deren Konkurrenz lange Zeit die Agenda bestimmte, inzwischen an kreativer Ausstrahlungskraft eingebüßt haben. Es liegt auch daran, dass allerorten neue Akteure auf der Bildfläche aufgetaucht sind, die ihren Teil dazu beigetragen haben, dass die Musikwelt immer multipolarer erscheint. Guter (und weniger guter) Pop muss heute nicht mehr nur aus Manchester, Liverpool, oder Los Angeles kommen. Er kann auch aus Barcelona, St. Petersburg oder Weilheim stammen. Oder eben aus São Paulo, Beirut oder St. Domingo.
Diese Entwicklung schlägt sich in den deutschen Charts nieder, wo sich – neben der zunehmenden Zahl an einheimischen Nasen, die sich ganz ohne Quote breit gemacht haben –, immer mehr Quereinsteiger tummeln. Denn daran, dass die erfolgreichste Rockband der Welt aus Irland stammt und die erfolgreichsten Independent-Künstler aus Island (Björk) oder Australien (Nick Cave), hat man sich ja schon längst gewöhnt. Aber dass der erfolgreichste Gothic-Rock aus Finnland kommt, der eingängigste Kleinmädchen-Pop aus Schweden und der gefragteste Reggae aus Deutschland, dass ist neu. Und auch, dass sich französisches Neo-Chanson, kubanischer Son, brasilianische Booty-Beats oder balkanische Blasmusik hierzulande ein beachtliches Stammpublikum erobert haben.
Auch im Programm der diesjährigen Popkomm spiegelt sich diese Internationalisierung wider: Schon die Entscheidung, in Berlin erstmals einen Länderschwerpunkt zu bilden, ist ja eine Reaktion auf diese Entwicklung. Neben den Franzosen, deren nationales Pop-Exportbüro den Auftritt organisiert und so viele französische Künstler, Labels und Musik-Attachés über den Rhein gelockt hat wie nie zuvor, werden wohl auch die Holländer, die Briten, die Spanier oder die Koreaner in den Messehallen unterm Berliner Funkturm ihre Länder-Pavillons aufschlagen, und unzählige neue Gäste aus Lateinamerika, Osteuropa und dem Fernen Osten erwartet.
Was diese Länder zu bieten haben, ist nicht nur der immergleiche Pop-Mainstream in neuem Gewand: Eine blond gefärbte Shakira etwa, die auf Englisch singt. Es ist oft etwas ganz Eigenes, das sich aus der Verbindung von globalen Stilen und lokaler Koloratur ergibt: Hybride Mischungen wie der Mestizo-Sound eines Manu Chao, die Tangotronics des französisch-argentinischen DJ-Duos Gotan Project oder der mexikanisch beeinflusste Wüstenrock von Calexico, um nur einige der bekanntesten Grenzgänger zu nennen.
Damit aber werden die Grenzen zwischen Pop und so genannter Weltmusik immer durchlässiger. Einst war der Allerweltsbegriff ja erfunden worden, um exotischer Popmusik aus entfernten Ländern den Weg zu ebnen. Heute gibt es in jedem besseren Plattenladen eine Weltmusik-Abteilung, in der man afrikanische Popstars, brasilianische Songwriter und traditionelle Sitar-Musik aus Indien in friedlicher Koexistenz findet.
Gleichzeitig wildert die Popwelt immer ungenierter in diesem Fundus. Im Mutterland der Popmusik, in den USA, haben progressive HipHop-Produzenten wie die Neptunes und Missy Elliot mit ihren abstrakten Beats dafür gesorgt, dass sich westliche Hörer an ungerade Rhythmen gewöhnt haben, in die auch mal eine orientalische Melodie oder ein indisches Sample passt. Gleichzeitig ziehen sich Ragga-Rhythmen in der jüngsten Zeit wie ein roter Faden durch die US-amerikanischen Charts. Im vergangenen Sommer war es die 19-jährige Sängerin Lumidee aus Spanish Harlem, der mit „Never leave you“ der Überraschungshit der Saison gelang. Das Stück mit seinen minimalistischen Handclap-Beats sowie dem simplen, einprägsamen „Uh-Oooh“-Refrain basierte auf dem aktuellen Dancehall-Riddim „Diwali“. In diesem Jahr ist es nun das New Yorker Mädchenduo Nina Sky mit „Move Ya Body“, das sich nicht nur in seinem Musikvideo in den jamaikanischen Nationalfarben Grün-Gelb-Rot kleidet. Andererseits haben sich auch an der Peripherie die Produktionsbedingungen gewandelt. Wurde kommerzielle Popmusik in vielen Regionen der Welt früher mit denkbar einfachen Mitteln, möglichst billig und auf niedrigem Niveau produziert, so hat sich der Abstand zwischen erster und dritter Welt inzwischen verringert. Ob eine Platte in Istanbul, Trinidad oder Hongkong produziert wurde, kann man heute zumindest nicht mehr sofort am schäbigen Sound erkennen.
Deshalb wundert sich heute niemand mehr, wenn ein indisches Bhangra-Stück wochenlang auf allen Radiosendern rotiert, wie es Panjabi MC gelang. Oder wenn sich mit „Turn me On“ von Kevin Lyttle ein Soca-Stück, dem populären Stil aus Trinidad, in den Charts findet: Die Zukunft der Popmusik, sie liegt an der Peripherie.