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Wenn Philosophie die Kunst finanziert

Feldstudien mit Freiern und Fragebögen: Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Goldrausch 2004“ stellt die Berliner Künstlerin Judith Siegmund heute Abend ihr Projektbuch „Soziale Geräusche“ im Kunstraum Kreuzberg vor

Ihre Arbeiten sind frei genug, um nicht als Soziologie missverstanden zu werden

Die neu ausgebaute Atelierwohnung in Kreuzberg, die Judith Siegmund vor drei Jahren bezog, ist ein Schmuckstück; das lichte Dachgeschoss, in das eine Freitreppe aus dem Wohnbereich führt, gibt der funktionalen, überschaubaren Wohnung das individuelle, überraschende Detail. „Hier führe ich das Leben, das ich mir gewünscht habe. Morgens aufstehen und gleich mit der Arbeit anfangen, auf die ich mich freue.“ Gleich zwei Schreibtische stehen dafür bereit. Der eine mit Computer und Telefon sieht nach Alltagsgeschäften aus, der andere nach Studium. Auf ihm stapeln sich die Bücher aus der Bibliothek, von Edmund Husserl etwa. Judith Siegmund, eine auffällige Erscheinung mit ihrem kahl rasierten Kopf, ist nicht nur Künstlerin, sie promoviert derzeit auch in Philosophie.

„Ich stand da mit meinem Zettel. Ich konnte nichts sagen, wusste nicht mal, wie man Hallo sagt.“ Das äußert eine der drei Frauen, die Judith Siegmund für ihre Videoarbeit „Fremde Freier“ interviewt hat, in der sie nun in der Goldrausch-Ausstellung 2004 im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien vertreten ist. Noch immer, nach bald 15 Jahren Existenz, ist Goldrausch eine einzigartige Einrichtung, die – von Senat und EU gefördert – bildenden Künstlerinnen hilft, sich weiter zu professionalisieren.

Goldrausch will Kompetenz entwickeln. Und Kompetenz heißt auch der Begriff, der Judith Siegmund und ihre Interviewpartnerinnen in ein Boot bringt; ihre Zusammenarbeit in „Fremde Freier“ begründet. Siegmund billigt der Position vor der Kamera die gleiche Zuständigkeit zu wie der hinter der Kamera. Daher befragte sie auch die Prostituierten, die sie anlässlich eines anderen Projekts interviewte, nicht nach ihrem Leben, sondern nach ihren Freiern. Sie sieht die Frauen nicht primär als Opfer widriger Umstände, was die biografische Erzählung bestätigen soll, sondern als Frauen, die über ein spezifisches Wissen verfügen – über den deutschen Mann und seinen Sex. Denn 90 Prozent der Männer, die die Dienste der Sexarbeiterinnen aus Weißrussland und anderen östlichen Ländern in Anspruch nehmen, sind deutsch.

„Fremde Freier“ fällt als extrem intelligente Videoarbeit auf. Beispielhaft zeigt sie auf, wie Judith Siegmund sozialwissenschaftliche Methoden des Interviews in eine eigene konzeptuelle künstlerische Form fortentwickelt hat. Es war der Fall der Mauer, der sie auf die gesellschaftlichen Fragen aufmerksam werden ließ, die sie unter dem Titel „Soziale Geräusche“ zum Kern ihrer künstlerischen Arbeit erklärte. Immerhin produzierte Siegmund, die in Rostock aufwuchs, mit 25 Jahren ebenso feinsinnige Malerei wie die heutigen 25-jährigen Malerhelden aus dem Osten. Schließlich hatte sie 1991 ihren Abschluss an der Hochschule für bildende Künste in Dresden gemacht.

„Soziale Geräusche“ heißt auch ihr Buch, das sie heute Abend im Rahmen der Goldrausch-Veranstaltungen vorstellt. Die Einladung des Museums für Junge Kunst in Frankfurt an der Oder für eine Arbeit im öffentlichen Raum der Stadt war Anlass für sie, die alltägliche Angst vor dem Fremden und den Alltagsrassismus zu untersuchen, der ja nicht nur dunkelhäutige Menschen aus fernen Ländern meint, sondern den nächsten Nachbarn auf der anderen Seite der Grenze. Dafür wertete sie zehntausende von ihr erstellte Fragebögen aus, produzierte Videoarbeiten zusammen mit Schülern oder einem Asylbewerber.

Videos, die formal frei genug sind, um nicht als soziologische oder journalistische Arbeit missverstanden zu werden, die aber gleichzeitig streng genug konzipiert sind, damit die Aussage nicht hinter der Ästhetik verschwindet. Und, sagt Judith Siegmund dank ihrem Promotionsstipendium der Heinrich-Böll-Stiftung, „die Philosophie finanziert meine Kunst“, darf man das ruhig zweideutig missverstehen. Die Philosophie sponsert ihre Kunst auch gedanklich – das ist die glückliche Erfahrung, die man mit ihr macht.

BRIGITTE WERNEBURG

Heute 19 Uhr, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2

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