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Archiv-Artikel

Milch und Blut am Kinn

Das Internationale Literaturfestival hat auch seine angenehmen Seiten: Fliegen töten, Kaffee trinken und Kinder erschrecken. Unterwegs als Festivalpatin des englischen Schriftstellers Alan Sillitoe

VON JENNY ZYLKA

Ein freundlicher Brief flatterte ins Haus. Möchten Sie, fragte man mich, die Patenschaft für einen unserer Autoren oder Autorinnen übernehmen, die im Rahmen des Literaturfestivals in Berlin zu Gast sein werden? Au ja, schrieb ich zurück. Möchte ich gern. Muss ich dann monatlich 25 Euro überweisen, damit ein Brunnen gebaut werden kann, oder reicht’s, wenn ich am Geburtstag ein Päckchen schicke?

Nix von alledem. Die Literaturpatenschaften erstrecken sich nur über die Festivaldauer, und die Patenaufgaben bestehen hauptsächlich in „vom Flughafen abholen“, „zum Flughafen zurückbringen“, eventuell auch mal „zum Essen begleiten“.

Trotzdem fand ich die Idee toll und kreuzte auf der beigelegten Liste meine Wunschpatenkinder an: 1. Gore Vidal. Der Mann, der Ben Hur geschrieben hat, die kritischste Screaming Queen der amerikanischen Gesellschaft, der Box-Experte mit fast einem Jahrhundert wilder Lebenserfahrung auf dem Buckel. 2. Alan Sillitoe. Dessen Buch „Samstag nacht und Sonntag morgen“ mich zum Gintrinken verführt hat, und dessen Hitnovelle „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ das schönste und rhythmischste Laufbuch aller Zeiten ist. 3. Irgendeine orientalische Kinderbuchautorin, deren Namen ich hübsch fand.

Erstaunlicherweise bekam ich Alan Sillitoe zugeteilt, und freute mich sehr. Keine Sekunde dachte ich an zweite Wahl, obwohl ich beim Abholen meines Patenkindes am Freitag in Tegel verstohlen umherlinste, um herauszufinden, wer mit dem „Mr. Vidal“-Schild wedelte. Doch außer mir standen nur Marathonläufer-Abholer am Schalter. Also versuchte ich, mein „Mr. Sillitoe“- Schild nicht zu knittern und machte mir ein bisschen Sorgen, dass die Schrift vielleicht zu klein für die Augen des 76-Jährigen sein könnte, von dem ich leider nur ein Foto aus den 50ern besaß.

Dann machte ich mir ein bisschen Sorgen, weil das dicke, fünf Monate alte Goldkind, das in seinem Hippietragegestell vor meinem Brustkorb hing, plötzlich wach und hungrig wurde. Und dann machte ich mir ein bisschen mehr Sorgen, weil mein Sohn anfing zu brüllen, genau in dem Augenblick, als ein kleiner, in geschmackvollem Beige gekleideter älterer Herr mit einem hübschen 30er-Jahre-Koffer in der Hand durch die Ankunftsschranken schritt. Der Herr guckte auf das Schild, guckte erschreckt auf das schreiende Kind, und ich brüllte über das Brüllen meines hungrigen Sohnes hinweg beherzt meine Begrüßungsformel: Guten Tag Mr. Sillitoe, I’m your godmother!

Dann setzten wir uns in ein klitzekleines Auto, das ich mir geliehen hatte, weil mein eigenes Auto gerade kaputt ist. In so einem kleinen Auto kann man das Schreien eines Kindes noch besser hören als in einem Flughafen. Ich musste von meinem eigentlichen Plan abweichen, mich mit Herrn Sillitoe über Schreibblockaden auszutauschen, so von unbekannter Autorin zu großartigem Starautor.

Stattdessen sprachen wir darüber, wie man schreiende Kinder still bekommt. Ich habe fünf Enkelkinder, erzählte Sillitoe, und die kriegt man am besten ruhig, wenn man sie ablenkt. Er nahm seine rote Festival-Begrüßungsmappe, die mit zwei Gummibändern geschlossen wurde, und begann, die Gummibänder geräuschvoll auf den Mappendeckel flitschen zu lassen – ein Geräusch wie eine Fliegenklatsche. Mein Sohn hörte auf zu schreien. Haha, sagte Sillitoe, das findest du gut, hmm? Soll ich weitermachen? Soll ich noch ein paar Fliegen töten? Er ließ wieder das Gummiband knallen. Meinem Sohn stand immer noch der Mund offen. Noch eine Fliege, sagte Sillitoe. Eine dicke Mamifliege. Flitsch. Die ist jetzt tot. Flitsch. Die Papifliege war schlau und hat sich nicht kriegen lassen. Flitsch. Die Mamifliege ist jetzt perdu und kann ihre vielen kleinen Babyfliegen nicht mehr füttern. Survival of the fittest. Flitsch. Mein Sohn sabberte, hielt aber den Rand.

Ähem, sagte ich, wir sind gleich beim Hotel, ich könnte mein Kind dort kurz füttern, ich nehme an, Sie wollen danach keinen Kaffee mehr mit mir trinken und über Schreibblockaden reden? Och, sagte Herr Sillitoe, it’s never too late for a good smoke and a coffee. Dann erzählte er, wie er vor Jahrzehnten mit seiner Frau und seinem Sohn, der damals noch ein Baby war, Prag bereist hatte, und sein Sohn habe solchen Hunger gehabt, dass er, nachdem die Sillitoes endlich das tschechische Wort für Milch aus dem Wörterbuch herausklamüsert hatten, das Milchglas angebissen habe. Blut und Milch seien ihm über das Kinn geströmt wie ein Bach, erzählte Sillitoe fröhlich.

Ich stillte das Goldkind, wir tranken Kaffee und redeten über Filme. Ich traf Herrn Sillitoe während des Festivals noch zweimal, und als ich ihn am letzten Tag zum Flughafen brachte, war mein Goldkind brav und kicherte nur ein paarmal leise. Immerhin werden Sie mich nach unserer ersten Horrorfahrt nicht vergessen, sagte ich zum Abschied. Sie schon, nur Ihren Sohn nicht, sagte Sillitoe. Das war sicher als Witz gemeint, die Engländer sind immer so trocken. Ich bin jedenfalls ehrlich entzückt, dass ich Alan Sillitoes und nicht Gore Vidals Patentante war. Und über Schreibblockaden hätte ich eigentlich auch gar nichts sagen können.

Literaturfestival noch bis zum 2. 10., www.literaturfestival.com