Die erfolgreiche Rückeroberung des Ichs

Schreiben, um bei Verstand bleiben: Der amerikanische Erfolgsautor Wally Lamb gibt seit vier Jahren Unterricht in Creative Writing in einem Frauengefängnis in York, Connecticut. Mit „Von der Seele geschrieben“ ist nun eine Auswahl der Geschichten seiner Schülerinnen als Buch erschienen

Das Buch aus dem Gefängnis hat Briefe provoziert, aber auch einen Strafprozess

aus York SILVIA FEIST

Robin Cullen war 34 Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer Freundin Suzanne eine wunderbare Party verließ. Sie hatte zu viel getrunken, aber nicht so viel wie Suzanne. Also nahm sie die Schlüssel und fuhr los. Den Unfall, bei dem sich das Auto überschlug, überlebte ihre Freundin nicht. Robin Cullen wurde wegen fahrlässiger Tötung zu acht Jahren Haft verurteilt.

Drei Jahre hat die schmale Frau mit den rotbraunen Locken im Hochsicherheitsgefängnis von York verbüßt, der einzigen Vollzugsanstalt für Frauen im US-Bundesstaat Connecticut. Das Areal ist knapp 2 Quadratkilometer groß, und die flachen Bauten inmitten grüner Wiesen haben etwas von einem Landschulheim. Rund 1.400 Frauen im Alter von 16 bis 60 sitzen hier ein. Einige, wie Nancy Whiteley, nur für ein paar Monate wegen Betrugs. Andere, wie Bonnie Foreshaw, für 45 Jahre ohne Bewährung wegen Mordes.

Cullen hat weder ihre Schuld noch das Urteil je in Frage gestellt. Alkohol hat die heute 41-Jährige nie wieder angerührt. „Mich hat meine armselige Entscheidung ins Gefängnis gebracht, nicht meine Lebensumstände“, sagt sie unsentimental.

Für viele ihrer Mitinsassinnen sieht sie das anders. Ein großer Teil der Inhaftierten ist in ein kriminelles Milieu hineingewachsen. Viele sind körperlich, seelisch oder sexuell misshandelt worden. Wie etwa Diane Bartholomew, die bis zu ihrer tödlichen Krebsdiagnose jahrelang einsaß, weil sie ihren Mann getötet hat. Als Kind vom Vater geprügelt, als 15-Jährige von ihm missbraucht, noch als Teenager den Mann geheiratet, der die brutale Rolle des Vaters übernehmen sollte, und den nach 22 Jahren erschossen: das ist ihre Vita.

Robin Cullen hat die Lebensgeschichte ihrer schwer depressiven Mitinsassin in einem Schreibworkshop erfahren, den der Romanautor Wally Lamb ehrenamtlich in York leitet. Die Geschichten von acht Frauen sind nun mit einer Einleitung Lambs und einem Vorwort, das das amerikanische Justizsystem mit dem deutschen vergleicht, als Buch erschienen: „Von der Seele geschrieben“.

Angefangen hatte das ungewöhnliche Projekt damit, dass Lamb gerade seine Karteikarte nicht dabeihatte, auf der „Sag Nein!“ geschrieben steht. Mit Hilfe dieses Kärtchens will sich Lamb die Zeit zum Schreiben und für seine Frau und die drei Söhne freihalten. Sein zweiter Roman, „Früh am Morgen beginnt die Nacht“, hatte es wie „Die Musik der Wale“ auf die Bestsellerlisten geschafft, viele Lesungen mit sich gebracht und einen zweiten Auftritt bei der Nachmittags-Talk-Ikone Oprah Winfrey. Beide Bücher haben Außenseiter als Helden: Figuren an der Grenze zwischen Selbstzerstörung und Rettung.

Deshalb lud auch die Gefängnisbibliothekarin Wally Lamb ein, der nur eine Dreiviertelstunde entfernt wohnt. Eine Reihe von Selbstmorden und Selbstmordversuchen hatte zu einer verzweifelten Stimmung im Gefängnis geführt. Lamb hatte am Telefon seine Nein-Karte ebenso wenig zur Hand wie im Gefängnis. Als ihn die Frauen am Ende des Besuchs fragten, wann er wiederkomme, sagte er perplex: „Nächste Woche.“ Das war 1999. Seitdem fährt er jeden zweiten Donnerstag ins Gefängnis.

Zurzeit sind zwölf Frauen im Kurs. Sie tragen weinrote Sweatshirts, Jeans und Turnschuhe Marke No Name, die York-Uniform. Das Klassenzimmer ist die Bibliothek. Lamb sieht nach Lehrer aus: Brille, Schnauzbart, schütteres Haar. Kariertes Hemd und Jeans. Er hat Briefe mitgebracht. Reaktionen auf das Buch.

Eine Lehrerin schreibt an Brenda Medina, die seit zehn Jahren in York ist. Seit sie 18 ist. Urteil: Mord. Strafmaß: 25 Jahre ohne Bewährung. Auslöser: die Mutprobe, um in eine Gang aufgenommen zu werden. Sie sollte damals mit drei anderen Mädchen eine Frau zusammenschlagen. Dass die dann plötzlich tot dalag, erstochen, dafür könne sie nichts, sagt Medina noch heute. Das Strafmaß war für alle vier Mädchen dasselbe.

Medina ist Latina, Amerikanerin mit hispanischem Background. Die Lehrerin schreibt, dass es an ihrer Schule Gang-Aktivitäten gebe. Doch seit die Schüler Brendas Geschichte läsen, ändere sich die Stimmung. Medina wäre hübsch, wäre ihr Gesicht nicht von einer starken Akne gezeichnet. Als sie den Brief liest, strahlt sie stolz. Das Schreiben hat sie zu ihrer einzigen Möglichkeit erklärt, „an diesem chaotischen Ort nicht den Verstand zu verlieren“.

Das Thema „Gang“ für ihre Geschichte war heikel. Im Gefängnis wird sorgfältig darauf geachtet, dass weder ritualisierte Handschläge noch Parolen oder chiffrierte Passagen in Briefen die kriminelle Kultur von draußen weiterführen. Medina durfte schließlich mit Genehmigung der Gefängnisleitung über ihre Erfahrung schreiben. Eine Geschichte über Unsicherheit, den Wunsch, dazuzugehören, die Teenagerliebe zu einem coolen Jungen und schließlich die Bereitschaft, eine Unbekannte totzuschlagen.

Keine der Geschichten klingt auch nur annähernd wie der Versuch, sich reinzuwaschen. Auch sollte keine von ihnen veröffentlicht werden. Dass trotzdem ein Buch daraus wurde, ist Lambs Status als Erfolgsautor geschuldet. Die Geschichten sind eine Art Tagebuch, das in einer oft brutalen Offenheit literarische Form angenommen hat. Eine Selbstvergewisserung.

Wenn Robin Cullen an die Zeit in York denkt, verliert sich ihr Blick, als schaue sie nach innen: „Es war erdrückend. Konnte nicht glauben, dass das die Realität ist. Dass das meine Realität ist.“ Das „Ich“ ist aus ihrem Satz verschwunden, wie im Gefängnis die Identität verschwindet. Ganz banal, im Alltäglichen: nicht wählen können, was man isst, nicht aufstehen können, wann man will, nicht anziehen können, was einem gehört. Sich eine Zelle mit jemandem teilen müssen, der vielleicht drogenabhängig ist oder psychisch krank oder gewalttätig oder einfach nur unsympathisch. Ein Raum, in dem die Metalltoilette so offen herumsteht wie der Tisch oder die Betten. Im Freiheitsentzug löst sich das Selbst in viele kleine Unfreiheiten auf.

Das Projekt begann damit, das Wally Lamb zweimal nicht Nein sagen konnte

Kathy Rivera, 24, ist eine der Neuen des neuen Kurses. Sie sitzt für drei Jahre wegen einer Drogengeschichte. Genaueres kann sie nicht sagen, die Frauen dürfen nicht über ihre Vergehen sprechen. Rivera ist mit 13 von zu Hause weg, bekam mit 15 ihre Tochter, heiratete, und als sie 20 war, kam ihr Sohn. Vom Vater ihrer Kinder ist sie getrennt. So wie sich ihre Mutter von ihrem Vater getrennt hat, als Kathy sechs Jahre alt war, die Jüngste von vier Geschwistern. Das Muster ist so offensichtlich, und doch hat sie erst in York begriffen, was sie gelebt hat. „Ich bin hierher gekommen ohne irgendeine Vision, ohne Traum. Nach meiner Ehe hatte ich nichts“, sagt sie und: „Ich werde meine Geschichte schreiben.“ Es klingt wie ein Doppelplan: Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsbeschreibung. Wenn sie in einem Jahr entlassen wird, will sie Journalistin werden und irgendwann Bürgermeisterin. Ihre Augen sprühen übermütig.

Einige Kapitel ihrer Geschichte stehen bereits, was sie ohne die kritische Rückmeldung der Gruppe und Lambs nicht geschafft hätte. „Es gibt eine besondere Verbindung zwischen uns in diesem Kurs“, sagt sie. Das Vertrauensverhältnis, das dazu nötig war, ist quälend langsam in der ersten Gruppe gewachsen. Eine Regel im Gefängnis lautet: Nicht zu viel von sich preisgeben. Und da sitzen sie nun, in diesem Kurs, bekommen eine Hausaufgabe wie „Eine Geschichte aus dem Sommer, als du 13 warst“ und schreiben.

Nancy Whiteleys Geschichte „Im Orbit von Izzy“ fing genauso an. Die 35-Jährige, die wegen Kreditkartenbetrugs zu 27 Monaten verurteilt worden war und inzwischen auf Bewährung entlassen ist, hatte zwei Seiten geschrieben. Dann kamen die Fragen. Mit exaktem Gespür dafür, an welchen Stellen Whiteley zu vage blieb, auch um sich selbst auszuweichen, haben ihr die anderen Frauen eine Geschichte der x-fachen Länge abgerungen.

Whiteley ist mit ihrem lakonisch-distanzierten Stil ein besonderes Erzähltalent. Eine Karriere als Schriftstellerin traut sie sich allerdings noch nicht zu, dafür hat sie diesen Herbst mit dem College begonnen. „Ich habe mir diese Vision im Gefängnis geschaffen“, erzählt sie. „Wenn du verhaftet wirst und dir die Freiheit genommen wird, ist das anfangs ein ungeheurer Schock.“ Sie schläft schlecht und hat Albträume aus der Angst heraus, noch einmal die falschen Entscheidungen zu treffen. „Ich bin ständig in Habachtstellung, die Monate, die ich noch auf Bewährung bin, werde ich noch nicht einmal bei Rot über die Straße gehen“, sagt sie.

Das Buch ist nicht nur positiv aufgenommen worden. Es gibt einen Rechtsstreit, in dem den Frauen Selbstbereicherung vorgeworfen wird. Jede von ihnen hat 5.600 Dollar mit ihrem Beitrag verdient. Jetzt sollen sie deshalb Kost und Logis für die Zeit im Gefängnis zahlen. Für Barbara Parsons Lane, die 10 Jahre wegen Totschlags einsitzen wird, würde das heißen, 339.000 Dollar zahlen zu müssen. Ähnliches trifft auf die bereits Entlassenen zu. Der Streit fußt auf dem Son-of-Sam-Gesetz aus den Siebzigerjahren, als ein Serienmörder versuchte, seine Geschichte zu vermarkten. Wer die Geschichten der Frauen liest, bekommt allerdings eher den Eindruck, die literarische Arbeit sei einem nachgeholten Schulabschluss vergleichbar. Eine Qualifikation für den Schritt in ein rehabilitiertes Leben.

Barbara Parsons Lane ist eine schüchterne Frau von Mitte 50. Vor kurzem stand sie wieder einmal nackt vor einer Dienst habenden Beamtin, erzählt sie. Während ihr Körper auf wer weiß was untersucht wurde und dabei sämtliche Körperöffnungen kontrolliert wurden, sagte die Wärterin, dass es für das Buch der Frauen aus dem York-Gefängnis in der Bibliothek eine wochenlange Warteliste gebe, deshalb werde sie es sich jetzt kaufen. Und zwischen ihren Anweisungen, sich zu bücken und umzudrehen, fragte sie, ob Parsons Lane ihr etwas hineinschreiben werde. Parsons Lane hat genickt.

Wally Lamb und die Frauen des Sicherheitsgefängnisses von York: „Von der Seele geschrieben“. Aus dem Amerikanischen von Bettina Münch. List Verlag, München 2003, 336 Seiten, 22 €