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Archiv-Artikel

Die Äpfel der Kindheit

Im deutschen Herbst 2004 gehört es zum guten Ton, einen Apfelbaum zu pflanzen. Historisch muss er sein

In den Gärten des deutschen Bürgertums werden Apfelbäumchen gepflanzt, als ob morgen die Welt unterginge. Dabei sind die Bäumchen meist von gestern und heißen „Agathe von Klanxbüll“ oder „Hattstedter Streifling“. Deutsche Baumschulen verzeichnen ein verstärktes Interesse an historischen Apfelsorten: „Die Menschen suchen Vielfalt und erinnern sich an die Äpfel ihrer Kindheit“ sagt Meinolf Hammerschmidt aus dem schleswig-holsteinischen Winderatt. Hammerschmidt ist einer der führenden Apfelexperten im Land.

Die Zeiten des gelehrten Apfelliebhabers scheinen zurückzukehren. Als deren Blütezeit gilt das 19. Jahrhundert, das zugleich als Höhepunkt der klassischen Pomologie – der Obstsortenlehre – gilt. Damals war es in Honoratiorenkreisen üblich, sich über die neuesten Apfelzüchtungen auszutauschen, man wälzte Landpfarrer Sicklers „Der teutsche Obstgärtner“ und erfreute sich voller Wissensdurst an der just entdeckten Sexualität der Pflanzen. Es wurden pomologische Gesellschaften und Vereine gegründet, die den Nährboden für eine immer mehr Blüten treibende Sortenvielfalt bildeten. Zugleich gab es schon immer Bestrebungen, diesem Apfelanarchismus Einhalt zu gebieten und einen verbindlichen Sorten-Kanon zu schaffen.

Die Industrialisierung im 20. Jahrhundert hat dies schließlich fast geschafft: Die Vielfalt hat sich bei wenigen Sorten wie Boskoop, Elstar und Golden Delicious eingemendelt. Die jüngere Generation ist zudem mit Granny Smith sozialisiert: Der grellgrüne australische Pop-Apfel mit dem gefälligen Äußeren ist schließlich selbst noch nicht reif, wenn er auf den Markt kommt. Die Äpfel ihrer Kindheit stecken in der McDonald’s Apfeltasche und in der Apfelshampooflasche. Während diese Kinder nun aus dem Haus sind und ihr Einheitsobst im Discounter kaufen, streifen ihre Eltern durch die Baumschulen: das Haus ist gebaut, die Söhne und Töchter gezeugt, ein Apfelbaum muss her. Die Suche nach „Stina Lohmann“ und „Purpurroter Cousinot“ gerät dabei zur Suche nach der verlorenen Unschuld: Die regressive Sehnsucht nach den Äpfeln der Kindheit bleibt eine reine Privatangelegenheit. Während im Alten Land und in Brandenburg die industrialisierte Apfelernte auf Hochtouren läuft, flüchten sich ambitionierte Kleingärtner in das biedermeierliche Idyll des herbstlichen Privatgartens. MARTIN REICHERT