: Bereit zum Abschuss
Wie die Berliner Medien mit einem Trainerwechsel umgehen, den sie selbst vorbereitet haben – und der dann doch nicht eintritt. Ein Unsittenbild
von FRANK KETTERER
Es ist ein Uhr Mittag und der Frost kriecht langsam, aber stetig in die Knochen. Die Meute lässt sich davon nicht abhalten. Sie hat Blut gerochen, Fährte aufgenommen, seit Tagen schon. Hat das Opfer gejagd, umzingelt, schließlich gestellt. Nun hat sich die Meute vor einem blau-weißen Band in der Nähe des Berliner Olympiastadions, gleich neben der Geschäftsstelle von Fußball-Bundesligist Hertha BSC, versammelt und wartet seit Stunden, dass sich dieses Band endlich hebt und Einlass gewährt. Als es geschieht, setzt die Meute an zur letzten Treibjagd: Fotografen und Kameramänner stürmen voran, es geht um die beste Position; die Reporter von Funk, Fernsehen und Print hetzen hinterher. Die Meute ist bereit zum finalen Abschuss. Eine halbe Stunde später wird ihr das Opfer vorgeführt. Seine Augen flackern unruhig. Das Opfer sagt: „Auch ein Huub Stevens liest, was geschrieben wurde. Auch ein Huub Stevens hat Gefühle.“ Für einen kurzen Augenblick wird es ruhig im voll gestopften Presseraum, dann geht erneut ein Blitzlichtgewitter hernieder.
Hertha BSC hat Huub Stevens, seinen Trainer, nicht entlassen an diesem Montagabend. Das ist, nach neun Spielen ohne Sieg und dem damit verbundenen Erreichen des letzten Tabellenplatzes, gegen den allgemeinen Trend der Branche. Stevens, der Holländer, fliegt doch nicht. Noch nicht. Zwei Spiele Gnadenfrist werden ihm an diesem Abend eingeräumt, die muss er gewinnen. Das ist die eine, die sportliche Dimension der Geschichte, nachzulesen auf den Leibesübungen der taz.
Die andere Dimension, jene, die mit Sport nur am Rande zu tun hat, obwohl es doch um Fußball geht, ist, wie ein Verein von den Medien dazu gezwungen wird, ein Nichtereignis, nämlich den Nicht-Trainer-Wechsel, als Großereignis zu inszenieren, vor laufenden Kameras und live übertragen von zwei Fernsehsendern. Normal ist das nicht.
Normal wäre es gewesen, den Trainer tagsüber zu feuern und abends vor all den Kameras bereits den neuen zu präsentieren, so jedenfalls kennt man das. Oder den alten, wie geschehen, doch zu behalten – und einfach weiterzumachen, ganz ohne großes Bohei und öffentliches Ultimatum. In der Medienstadt Berlin aber war solches nicht mehr möglich.
Die passenden Bild-Schlagzeilen dazu: „Siegen oder Fliegen“ titelte das Blatt am Samstag. „Huub, das war das Allerletzte“, am Sonntag (nach der 1:4-Niederlage gegen Leverkusen). „Heute fliegt Stevens – zu 99,9 Prozent“, wusste es am Montag. Die restlichen Hauptstadtblätter, selbst die seriöseren, sangen munter mit im Chor. Tenor: „Stevens raus!“ Am Montag hätte es – endlich – so weit sein sollen.
Dass Hertha BSC, allen voran der Manager Dieter Hoeneß, sich diesem Diktat der Medien (noch) nicht beugen wollte, ist ungewöhnlich. Und so wurde letztlich zur medialen Sensation, dass nicht eintrat, was zuvor schon in der Zeitung gestanden hatte – und also alles beim Alten blieb. Vergebens hatten somit die Reporter vom Boulevardblatt BZ die Villa von Hoeneß observiert am Sonntagmorgen ab acht, um zu sehen, mit wem alles er dort verhandelt. Vergeblich hatte ein Kamerateam des ZDF in später Samstagnacht Huub Stevens aufgelauert, um zu filmen, wie er in sein Auto stieg und von dannen brauste – vielleicht zum letzten Mal. Und vergeblich hatte die Meute auch am Montag in der Kälte gelauert vor dem blau-weißen Band, auf dass Stevens endlich zum Abschuss freigegeben würde. Am Ende mussten sie allesamt wieder abziehen, ganz ohne Trophäe. Wie tief die Enttäuschung darüber ist, war anderntags im Berliner Kurier zu lesen: „Hertha BSE – Ihr seid doch irre!!“, titelte das dünnste Berliner Boulevardblättchen.
siehe auch: leibesübungen